Frühlingserwachen - eine mentalitätsgeschichtliche Duftanalyse

Als ich die Jahreszahl der Entstehung dieses Duftes las (ungeachtet der Tatsache, dass auch dieser Duft natürlich reformuliert, überarbeitet und angepasst wurde), traf es mich wie ein Blitz: 1891 ist das Jahr der Entstehung von Frank Wedekinds berühmter, berüchtigter „Kinder-Tragödie“ Frühlingserwachen, die seinerzeit für ungeheuren Aufruhr sorgte und die mir immer als ein wichtiger Wendepunkt in der Literatur der Moderne erschien: Junge Menschen zerbrechen am Moralkodex der Zeit, an schulischen Zwängen und sexueller Unaufgeklärtheit. Ihr Leben schließlich endet in Tod und Verzweiflung. Das Werk selbst überwindet den Naturalismus, weist auf den literarischen Expressionismus voraus und trägt symbolistisch-romantisierende Züge.

Was hat das alles mit einem Duft zu tun, der zufällig im gleichen Jahr komponiert wurde? Ich glaube diesbezüglich nicht an Zufälle. So sehr die bildende Kunst, die Musik, Philosophie und Weltanschauungen einer bestimmten Epoche miteinander verbunden sind, so sehr darf man auch hinter jeder Duftkomposition die Mentalität ihrer Zeit vermuten, die Moden und Vorlieben einer Generation. Das galt für die herben oder moschuslastigen Düfte der 70er, für die zuweilen hochkomplexen Düfte der 80er, die Frische- und Sportwelle der 90er und die Oudmoden der jüngsten Zeit. So steht hinter einer Mode eben auch der Zeitgeist, eine Mentalität, die durch Diskurse in Politik, Wirtschaft, Kunst und Philosophie geprägt wird.

Legt man diese These zugrunde, dann dürfte der Einfluss von Weltanschauungen auch für Düfte gelten. So waren die Parfums und Colognes der 70er nicht zufällig moschuslastig, sondern wollten die sexuelle Freizügigkeit dieser Generation in erotisch aufgeladenen Düften abbilden. So waren die Düfte der 80er nicht zufällig aufwändig und verschwenderisch komponiert, sondern waren ein Abbild einer Zeit, die das Primat des wirtschaftlichen Erfolgs feierte wie keine zuvor. So waren die Düfte der 90er nicht umsonst klar, frisch und streng, waren diese Jahre doch eine Zeit, in der eine neue Sachlichkeit in Politik, Stil und Wesen der Mode Einzug hielt und zu der opulente oder erotisch aufgeladene Düfte nicht mehr gepasst hätte. Was die aktuelle Oud-Mode zu besagen hat, das stelle ich hiermit zur Diskussion.

Gehen wir davon aus, dass Phul-Nana nicht vollkommen reformuliert wurde, sondern dem Hersteller zufolge alten Rezepten nachkomponiert wurde, dem Heute angepasst, aber mit dem Blick zurück in die Vergangenheit, ins Jahr 1891, dann handelte es sich bei Phul-Nana - neben vielen englischen Colognes - um einen der ältesten Düfte auf dem Markt; ich persönlich würde sein Herstellungsjahr eher in die Gegenwart verlegt wissen wollen, kann mich aber mit dem Gedanken anfreunden, dass der Duft noch den Charakter des vorletzten Jahrhunderts trägt: des Jahres 1891.

Was aber geschah im Jahre 1891? Ein Blick in die Geschichtsbücher ist nicht immer aufschlussreich: Sie können viel über politische Entwicklungen in der Kaiserzeit, in der Zeit nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 erschließen, vermögen aber wenig über die Befindlichkeit der Menschen dieser Zeit, wenig auch über die Moden, Vorlieben, Denk- und Verhaltensmuster dieser Jahre zu berichten. Ein Blick in alte Zeitungen mag aufschlussreicher sein, gerade wenn sie seinerzeit schon Werbung enthielten, denn diese sagt eben mehr über die Wünsche von Menschen aus als alle sachlichen Darstellungen, Nachrichten oder Berichte.

Richtig spannend wird es aber dann bei der Betrachtung von Literatur. Viele Historiker sind sich einig: Mentalitätsgeschichte wird erfahrbar über Alltagskultur, über das, was die Menschen in ihren persönlichen Gesprächen, Sorgen und Nöten bewegte - und solche Ideen wiederum werden vielleicht nirgends so gut für die Nachwelt konserviert wie in der Literatur, die ja ein Spiegel ihrer Zeit ist, die aktuelle Strömungen pointiert zur Sprache bringt und oftmals gerade das aufgreift, was die Menschen zu bewegen BEGINNT: das Neue.

Immer vorausgesetzt, dies alles stimmt, weiter vorausgesetzt, der Leser möchte mir folgen, dann ließe sich aus der Literatur der Zeit folgendes ableiten:

Einerseits war 1891 noch die Zeit des Naturalismus, der exakten Darstellung äußerlicher und innerseelischer Vorgänge, der harten Darstellung sozialer Nöte, - wie im Brennglas vergrößert: z.T. schockierende Schilderungen von Armut, Alkoholismus, sozialem Determinismus. Gerhard Hauptmanns „Die Weber“ erschien 1892, war sozial und politisch revolutionär und neu. Und dennoch erschienen parallel die Werke einer Generation von Schriftstellern, die eine Gegenbewegung etablierten, die Sprachrohr einer anderer Generation waren, die wieder stärker symbolistische, romantische Tendenzen zur Sprache brachten. Wedekinds „Frühlingserwachen“ ist voller mystischer Anspielungen, sexueller Ein- und Zweideutigkeiten, Wut auf die bürgerliche Enge der Zeit, eine Anklage gegen die Moralvorstellungen des Bürgertums vor der Jahrhundertwende, das seine Opfer forderte, im vorliegenden Fall sogar bei Kindern bzw. Jugendlichen.

Ein Duft, der diese Weltanschauung, die im Aufkeimen begriffen war, abbilden wollte, musste eine erotische, eine wuchtige, eine befreiende Komponente haben. Nach einer frischen, hellen Eröffnung zeigt sich bei Phul-Nana unter der Oberfläche das Dunkel, die Erotik, die Wucht: Patchouli wird bald spürbar, trägt bis zum Schluss, Tuberose, „the siren of the parfume world“, sorgt für sexuelle Aufladung, ähnlich die anderen Blütendüfte, die durch den dunklen Patchouli notdürftig gezügelt erscheinen. Das wirkt wie das enge Kleid um einen schönen Körper, wie eine exquisite Verhüllung der Tuberose mit all ihren erotischen Implikationen. Gleichzeitig hat auch der Pachouli seine exotisch-erotischen Konnotationen, das ist fast wie olfaktorische Dialektik: das eine duftende Argument hebt das andere auf und führt es zu einer höheren Ebene.

Die Basis ist wuchtig-schwülstig gestaltet, mit allem, was für den großen Auftritt nötig ist. Nicht dass man unter der Tuberose und dem Patchouli noch all die schweren Töne von Benzoe, Vanille, Tonkabohne und Sandelholz wahrnehmen könnte. Sie sorgen aber für eine Basis, die wie ein Marmorsockel die leicht verhüllte Schönheit der Tuberosen-Patchouli-Komposition ausstellt und stabilisiert: wuchtig und schön zugleich.

Der Duft ist ohne Frage ein großer Wurf. Ob man dafür tatsächlich so viel Geld ausgeben möchte, wie der Hersteller fordert, muss jeder für sich selbst beantworten. Ich belasse es bei einer Abfüllung.

Fest steht für mich dabei allerdings, dass der Duft in perfekter Manier die in der Luft liegende Stimmung der damaligen Zeit widerspiegelt: Das beginnende Aufbegehren gegen die moralischen Zwänge des zu Ende gehenden Jahrhunderts, die die Menschen zu Gefangenen ihrer eigenen Sexualität, zu Gefangenen gesellschaftlicher Normen machte und dabei zu furchtbarem Leid führen konnte. Dies öffentlich zu machen, dagegen anzuschreiben, es im besten Fall zu verhindern, war die Intention von Schriftstellern wie Wedekind. Gelungen ist es ihm wie vielen zu früh Geborenen nicht sofort, sondern erst in seiner Nachwirkung, die allerdings kaum zu überschätzen ist. Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften haben erst Jahre später das nachvollzogen oder rezipiert, was einige wenige wache Geister schon 1891 wussten.

Phul-Nana bildet all dies in einem Duft ab. Das mag man überspitzt formuliert, falsch interpretiert oder überzogen nennen. Dazu stehe ich gerne.

Dieter Kafitz gewidmet

Yatagan für ParfumoBlog

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