Neuling
Neulings Blog
vor 10 Jahren - 16.10.2014
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Meine Flucht aus dem globalen Warenhaus

Eigentlich mag ich keine Warenhäuser. Und schon gar keine Parfümerien. Diese schreckliche Luft, die zu freundlich lächelnden VerkäuferInnen, die zelebrierte Konsumfreude, die riesige Auswahl an Dingen, von denen ich keine Ahnung habe: Es überfordert mich und oft ist ein instinktiver Fluchtreflex die Folge. Ausserdem bin ich – und dies mag manche hier erstaunen – fast vollständig parfumfrei aufgewachsen. Niemand in meiner Familie oder Verwandtschaft (ausser meiner Freundin, die aber nie darüber sprach, einer Grossmutter und einer Tante) und niemand von meinen Freunden trug jemals ein Parfum. Ich assoziierte damit vornehmlich ältere Damen in der Oper und verschwendete niemals einen Gedanken daran, mich zu beduften.

Daher kann ich mir bis heute nicht wirklich erklären, was mich vor fast einem Jahr geritten hat, mir das erste Mal in meinem Leben einen Duft zu kaufen. Als absolutes Greenhorn hatte ich überhaupt keine Ahnung von Duftrichtungen, Kopfnoten, Sillage oder Haltbarkeit und war völlig überrascht, wie komplett unterschiedlich die Teststreifen dufteten, die mir die Verkäuferin unter die Nase hielt. Eine Verkäuferin notabene, die ihr Handwerk verstand, mich gut einschätzte und so meinen angeborenen Fluchtreflex erfolgreich unterdrückte. Ich verdanke ihr Einiges!

Ich ging also stolz mit meiner Neuerwerbung (Comme des Garçons 2 Man) nach Hause und suchte irgendwann im Internet nach dieser Parfummarke, was mich schlussendlich zu Parfumo brachte.

Was für ein wunderbarer Tummelplatz: Eine unendliche Fülle von Duftbeschreibungen, interessanten Marken, Tausch- und Kaufgelegenheiten – und das alles, ohne jemals eine Parfümerie betreten zu müssen!

Die ersten Neuzukäufe liessen nicht lange auf sich warten...

Und irgendwann stand ich vor der auch hier immer wieder gern diskutierte Frage: Wie viele Düfte braucht ein Mann?

Natürlich „brauche“ ich keinen Duft, ich bin ja schliesslich fast dreissig Jahre sehr gut ohne Parfum klargekommen! Doch könnte man sich nicht auch fragen: Wozu brauchen wir eigentlich Beethoven, Pablo Picasso, Sergio Leone, den FC Bayern München, Tischleuchtendesigner..?

Parfum ist genauso unnötig wie Kunst, Design oder Musik. Doch wie viel ärmer wäre die Welt ohne genau diese Dinge! Der einzige Nutzen, den ich davon habe, besteht in einem erfüllteren und schöneren Leben. Leider schwindet diese Einsicht heute stetig. Wir verfallen immer stärker dem Wahn, alles beziffern zu müssen. Kinder sollen ein Musikinstrument spielen, damit sie besser in Mathematik werden, Sport wird nur betrieben, um sexuell attraktiver zu sein und länger zu leben, ein gutes Essen darf nicht nur frisch und lecker sein, sonder soll mich zusätzlich mit dutzenden wichtigen Fasern und Vitaminen versorgen...

Ich erfreue mich an den Dingen, die mein Leben reicher machen – eine zusätzliche Rechtfertigung brauche ich nicht!

Somit erübrigt sich meiner Meinung nach eigentlich auch die Diskussion, wie gross eine Sammlung nun eigentlich sein „darf“, wieviele Düfte man eigentlich „braucht“. Eine Sammlung in der (offenbar hier noch von allen „akzeptierten“ und als vernünftig eingestuften) Grösse von 20 Flaschen ist aus der Sicht meiner Eltern 20 Flaschen zu gross, für viele Parfumos und -as wohl hingegen einige dutzend Flaschen zu klein.

Ist dies nun mein persönlicher Freipass, sämtliche Parfumerien meiner Stadt leerzukaufen?

Es gibt Studien, die Folgendes behaupten: Je grösser die Auswahl wird, desto unglücklicher sind wir mit unserer Wahl. Ich habe schlicht mit jedem zusätzlichen Produkt, welches ich auswählen kann, eine zusätzliche Möglichkeit, das Falsche ausgewählt zu haben...

Genau dies konnte ich in den letzten Monaten bei mir immer stärker beobachten. Das Internetzeitalter hat die Grösse der Warenhäuser ins Unendliche gesteigert. Oder kennt jemand eine Parfümerie mit einer Auswahl von über 50000 Parfums? Früher ging ich von meinem Dorf in die nächste (immer noch kleine) Stadt, um mir etwas Spezielles zu kaufen und war glücklich damit. Wenn ich mir nun einen exklusiven Duft von Guerlain zulege, beschäftigt mich vor allem die Frage: Wäre der von Amouage nicht vielleicht doch besser gewesen? Oder der aus der Collection Privée von Dior? Oder der viel preisgünstigere Mainstreamduft? Oder der von Frédéric Malle?

Die riesige Auswahl ist eine unglaublich spannende Sache, doch sie bietet auch eine Gefahr: Die permanente Angst, nicht das Beste ausgesucht zu haben. Oder die (nie zu erfüllende) Hoffnung, es beim nächsten Mal zu finden...

Wie früher aus den für mich unangenehmen Räumlichkeiten der Parfümerien musste ich einen Weg finden, mich nicht dieser permanenten Unzufriedenheit auszuliefern. Ich habe versucht, mir nicht in erster Linie die Frage zu stellen: Was will ich? Sondern: Was liegt mir am meisten am Herzen? Und vor allem: Worauf kann ich verzichten?

Ich fühle mich einfach wohl mit Dingen, die mich lange begleiten. Meine Brieftasche sowie mein Fahrrad besitze ich seit mehr als meinem halben Leben, noch viel länger spiele ich dasselbe Instrument und die erste Frau, die ich geküsst habe, habe ich geheiratet.

Zwei Signaturdüfte: Einer eher dunkel und schwer, der andere hell und leicht. Seit fast einem Monat trage ich kaum etwas anderes. Und es macht sich keine Langeweile breit, im Gegenteil: Ich merke immer mehr, wie sehr ich meine Lieblinge mag!

Trotzdem ist meine Neugierde noch lange nicht erloschen und ich liebe es, immer wieder Neues kennenzulernen. Aus Spass, Interesse und Leidenschaft – ohne jeglichen Nutzen...

Danke Parfumo!

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