Beatephmc
Essenzen
vor 9 Jahren - 06.04.2015
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Opium fürs Volk. (Oder warum ich mich weigere, den Mount Everest zu besteigen.)

Kennen Sie "Opium"???

Haha, blöde Frage. NA SELBSTBVERSTÄNDLICH! Irgendwann in Ihrer Parfumlaufbahn werden Sie sicher schon mal mit dieser deftig orientalischen Wuchtbrumme zusammengeknallt sein. Und, falls ja, werden Sie sich ganz sicher an den Aufprall erinnern. Denn das Zusammentreffen mit diesem Meilenstein der Parfumgeschichte war von jeher weniger eine Geruchserfahrung als ein körperlicher Extrembelastungstest, der nicht selten bleibende Schäden verursachte...

Heute schon den Mount Everest ohne Sauerstoffmaske und Sherpa bestiegen? Ach was, ... nicht? Dann rät Ihr unabhängiger Parfumberater zu einer kleinen Dosis "Opium", dem unauslöschlichen Prägestempel für mehrere Hirnrindengenerationen bzw. der gewollt oder ungewollt zwangskonservierten Grenzerfahrung für Ihre nächsten acht Lebensdekaden. Einmal darin ertrunken, immer Alarmstufe Rot (...sprach Lieutenant Uhura zu Käptn Kirk. Schließlich waren beide meine Sandkastenfreunde.)

Wer in den späten Siebzigern jemals eine aufgetakelte Mittvierzigerin in zweihundert Metern Entfernung im Dunst verschwinden sah und die Beine in die Hand nehmen mußte, um einer Übelkeitsattacke apokalyptischen Ausmaßes zu entgehen, weiß, wovon ich hier spreche. Aufzüge waren durch opiumumwolkte weibliche Passagiere noch nach Stunden unbenutzbar. Gesprächspartner scharrten bereits nach Sekunden unruhig mit den Füßen, unfähig, panische Fluchttendenzen zu überspielen. Der beste Käseigel und die tollsten Mixed Pickles schmeckten auf Cousinchen Hannelores Hochzeit nicht mehr so wie früher, die Wunder der unzerstörbaren Arcopalschälchen und haargespraygetackerten Helmfrisuren hin oder her.

Opium ist allein deshalb schon ein Phänomen, weil es meiner unmaßgeblicher Erfahrung nach das einzige Parfum ist, das man einfach nicht niedrig GENUG dosieren kann. Absolut nicht. Ehrlich. Hab´s mit einer Freundin in den Neunzigern getestet. Einmal in die Luft gesprüht, nach drei Sekunden ein Carl-Lewis-Sprint durch die Duftwolke, und schon war an eine Abendgestaltung ohne schräge Kommentare oder maskulinen Rückzug nicht mehr zu denken. Und die Männerwelt fatalerweise frontalangriffsalarmiert statt interessiert.

Ts. DAS also ist der Dufttraum einer ganzen weiblichen Generation?

Und, gibt es einen Grund dafür, daß eine solche olfaktorische Massenvergewaltigung über Dekaden vom internationalen Gerichtshof ignoriert wurde? Daß man es versäumte, 1977 bei der Erweiterung der Genfer Konventionen einen Sonderpunkt "Schutz der Zivilbevölkerung vor duftinduzierten ABC-Waffen" hinzuzufügen?

Ich meine, ja. "Opium" kann (und muß!) man als kulturhistorisches Phänomen sehen, gemeinsam mit all den anderen orientalisch-schwülstigen Duftbomben der späten Siebziger, frühen Achtziger. Wen´s interessiert, der darf jetzt tapfer dranbleiben. Aber Achtung, ich muß heute dazu mal etwas ausholen (...tja,nur die Harten kommen in den Garten.) Allen anderen (insbesondere natürlich den Hardcore Opium-Fans) sei es großherzig erlaubt, jetzt seufzend und kopfschüttelnd meinen Blog auf immer zu verlassen und sich diesen bahnbrechender dufthistorischen Theorien willentlich zu entziehen. (Sie haben es nicht besser verdient, chrr...)

Leider bin ich bin definitiv alt genug, um Opium noch "in- und auswendig", quasi aus direkter, historisch kontextbezogener, unverfälschter Originalerfahrung zu kennen (Jahrgang 64). Opium war LAUT. Opium schrie unaufhörlich "Hier bin ich! Ich bin nicht mehr unsichtbar! Nimm mich wahr! Ich bin weiblich! Ich bin verführerisch! Ich bin unübersehbar!" (...und falls doch, wenigstens "unüberriechbar", HA!) Wenn man genau darüber nachdenkt, könnte das doch die absolut logische Folge der Emanzipationsbewegung der 70er gewesen sein, oder? Wie wundervoll, auch als Frau endlich für jeden STATTZUFINDEN. Ob gewollt oder ungewollt. Wenn man es so betrachtet, war die Kreation solcher Düfte für die Damenwelt zu ihrer Zeit vielleicht so unausweichlich wie die Erfindung der Neonreklame. Und, sorry, Fans, genauso grell und übergriffig.

Und ich denke, genau deshalb war meine Generation plus minus die erste, für die "Opium" und Konsorten als absolutes olfaktorisches "No-Go" galten. In unseren Atomkraft-Nein-Danke-Augen mußte man mindestens 3 Kinder, eine falsche Luis-Vuitton-Tasche und Grace-Jones-Schulterpolster in der Breite von John Travoltas Saturday-Night-Fever-Lächeln haben, um es berechtigt tragen zu können. Und dazu die Art von Frauen sein, die "...so viel künstliche Farbe im Gesicht und so wenig Hirn dahinter tragen, daß man Ihnen ihre Verzweiflung glauben mochte." (Oscar Wilde)

SELBSTVERSTÄNDLICH waren das alles haltlose Vorurteile. Großartige Frauen haben Opium getragen und tragen es noch heute. Aber die Achtziger waren eben auch der Beginn einer neuen Ära des Schubladendenkens. Sowohl der festgefahrene Rollenbrei der Nachkriegsära als auch die exzessive Revoluzzerindividualisierung der 68er hatten sich erfolgreich als peinlich erwiesen. Selbstfindung mußte von nun an erstmal vorsichtig im Schutz der gewählten Schubladenpeergroup stattfinden. Gorillabrusttrommeln war obsolet, das piepsige Verstecken in der Gruppe Gleichgesinnter angesgt. Auch wenn sich das in der Retrospektive als MINDESTENS ebenso peinlich darstellt. (Sie werden sehen...)

An unserer weiterführenden Schule war man entweder "Popper" (Föhnwelle, Collegeschuhe, kleinkarierter Bay-City-Rollers-Fan, Signaturduft "Giorgio Beverly Hills"), "Punker" (spuckefarbener Krähenhaarschnitt, Überzeugungsmessie in durchlöcherten T-Shirts und Sex-Pistols-Fan, Signaturduft "Gammelschweiß - L´ Eau Naturelle") oder "Alternativer" (No-Name-Jeans, Armeeparka, Paläsinenserhalstuch, Joan Baez-Fan, Signaturduft "Patchouli extrème"oder "My Melody Moschus"). Falls nichts vom Genannten, einfach "graue Maus" (hochgeschlossene pastellfarbene/karierte Baumwollblusen mit passend eng gewickeltem Polyesterschal, Katzenfan, blasses bebrilltes Chemiegenie, Signaturduft "Omas Mittagessen vom Vortag"). Ja. Die Zeiten waren wirklich grausam...

Und so besann man sich Mitte der Achtziger konsequenterweise auf den gallonenweisen Einsatz von Pfitzner´s 1966 entwickelten "Calone" (oder auch "Watermelon Ketone" genannt.) Dabei handelt es sich um ein intensiv silbrig-wässerig-melonig-synthetisch riechendes Duftmolekül, das kostengünstige Sauberdüfte à la Cool Water, L´Eau D´Issey, Escape, New West und Jil Sander Sun in ihrem strahlend gläsern aquatischen Duftakkord erst möglich machte. Es bescherte Pfitzner übrigens einen Millionenumsatz - und uns eine Armada austauschbarer Camouflagedüfte.

Selten hat die Synthetisierung eines einzigen Duftmoleküls eine so umwälzende Änderung des Massengeschmacks bewirkt bzw. begleitet. Und ganze Generationen von Parfumeuren träumen seit jeher von der Entdeckung eines ähnlich prägnanten und kostengünstigen Inhaltsstoffe-Chartbreakers.

Cleane Effizienz statt Opulenz, durchsichtig silbrig schimmernd statt krachig bunt. Von nun an war es nicht mehr hip, mit schweren, aufwändig geschnitzen arabischen Duftportalen ins Haus zu fallen. Stattdessen mußten sich polierte, chromgefaßte Glastüren möglichst geräuschlos (oder bestenfalls mit einen Ruamschiff-Enterprise- sssswitch) in die schöne neue Orwell-Zukunft öffnen. Nicht mehr der anstrengende körperbetonte Langstreckenlauf sondern das fröhlich asexuelle Versteckspiel "ich riech so schön nach NICHTS" machten die Pace. Und zeigten sich auf Dauer in ihrer nichtigen Austauschbarkeit ebenso ermüdend wie das Bombardement der Breitwanddüfte.

Deshalb sollte es also nicht wundern, daß wir noch immer auf der Suche sind. Daß wir den einen, den ganz individuellen Einer-Statt-Alle-Duft suchen. Das Elixir, das unsere Persönlichkeit perfekt repräsentiert. Aber selbstverständlich, ohne dem Massenmarkt gefallen zu wollen. Den SIGNATURduft. So individuell wie Fingerabdruck oder Unterschrift (...was für eine bezeichnende und typische Wortschöpfung der letzten Dekade!)

Ein laut Studien reich belegtes Phänomen ist dabei die Tatsache, daß wir diesen One-And-Only-Duft jetzt angeblich primär für uns selbst riechen, nicht mehr für andere tragen wollen. Eine besondere Abart der Selbstgefälligkeit? Mitnichten. Die zahllosen "welcher-Duft-hat-das-beste-Feedback-beim-anderen-Geschlecht" - Artikel sprechen da eher eine andere Sprache. Aber vielleicht sind wir ja doch manchmal ein ganz kleines bißchen uncooler als gedacht... =o))

Jedenfalls darf DER Duft neuerdings auch ruhig strange sein, eckig, gern auch ein wenig düster und bedrohlich. Wie die Zeit in der wir leben. Individualität ist das Zauberwort. Untragbares wird tragbar gemacht. Lutens´"Irish Silver Mist", Lush´s "Breath of God", die "Escentric Molecules" werden in ihrer kompromißlosen Abstraktheit zum Kult. Unverwechselbares liegt im Trend. Wir wollen wieder erkannt werden. Aber diesmal nicht unbedingt, um anderen zu gefallen (arguably...) Sondern vielleicht eher, um uns selbst zu erkennen. Ein Duft muß heute von den unübersehbaren Möglichkeiten reden, und damit im gleichen Maß von der Qual der Wahl.

Wir können aus dem Vollen schöpfen, jetzt, da die Duftregale auch in Privathaushalten die Dimensionen von Supermarktkäsetheken sprengen. (Haha, und an dieser Stelle WETTE ich, Sie wissen, wovon ich rede...) Wir freuen uns über Nischendüfte, die im Idealfall Kompliziertes erfreulich kompliziert sein lassen. Über grenzwertige Duftspaziergänge in birkengeteerten Wäldern und Tauer- (= teuer) verstaubten Wüsten. Wir jubeln über Schnäppchen und Seltenes. Über Flops und Heurekas. Und wir testen und testen und testen. Bestellen blind jede vielversprechende Neuerscheinung. Kaufen bei Ikea nicht mehr möbelfaktagetestete Sofas sondern parfumistaerprobte Aufbewahrungsschachteln. Der Kühlschrank ist leer, die Nase ist voll. Aber längst haben wir sie noch nicht voll von dieser wundervollen, unsinnigen, hedonistischen Luxusleidenschaft. Gott sei´s geklagt und gepriesen. Und zwar beides gleichzeitig. Wie fast immer bei den wirklich guten Dingen.

Ich wäre jetzt nicht hier, wenn es nicht so wäre. Und Sie vielleicht auch nicht. Genau das macht ja den großen Spaß aus, diese fröhlich selbstgewählte Reizüberflutung. Die Entdeckung einer weiteren verschachtelten Matroschkawelt mitten in unserer eigenen.

Und genau deshalb werde ich mich jetzt ganz schnell entschuldigen und wieder dem Wesentlichen zuwenden. Denn gerade SIE werden es wahrscheinlich wissen: Worte sind geduldig, (ömmm, oder erfordern Geduld...) aber die Nase fordert ihr eigenes Recht. (Da sind mir doch grad von Skjomi, meiner Lieblingsparfuma, mal wieder ein paar exquisite Duftproben ins Haus geflattert... die muß ich UNBEDINGT mal schnell schnüffeln, mal gucken ob was ganz Besonderes dabei ist... Sie wissen halt schon...)

OK. Ich geh dann mal Abtauchen...

Ach, und übrigens danke fürs Durchhalten und, wenn Sie mögen, bis demnächst. (...James Joyce? War das nicht dieser wortkarge, hastige Essayist...? =;o))

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