DuftJunkie
10.01.2015 - 20:42 Uhr
49
Top Rezension
7.5
Flakon
5
Sillage
6
Haltbarkeit
10
Duft

Tilli's Tagebuch

Es kommt bei mir beruflich manchmal vor, daß ich in Köln am Melaten-Friedhof vorbeifahre. Gestern war es wieder der Fall. Diesmal überkam mich aber ein seltsames Gefühl. Ich dachte nämlich daran, daß dort ein ganz bestimmter Mensch begraben liegt. Ich mochte hineingehen und auf seinen Grab Nelken legen. Da wo ich herkomme, macht man es so. Als Zeichen des Mitgefühls, der Trauer und der Ehrung. Von einem gewissen Johann Maria Farina ist hier die Rede. Er starb am 25. November 1766 in Köln und wurde auf dem Melaten-Friedhof beigesetzt.
Ich möchte nun aber keine Grabrede halten. Andere können das viel besser. Ich möchte hier einen Kommentar zu seinem größten Werk schreiben, dem "Original Eau de Cologne" von Farina. Auch das können andere sicher besser, aber mir ist halt danach. Ich beginne mit einer Erinnerung aus meiner Kindheit; mit einem Auszug aus einem Tagebuch:

"Aus dem Tagebuch eines Zweijährigen"

Donnerstag,

08:10 Uhr - Kölnisch Wasser auf Teppich gespritzt. Riecht fein. Mama böse. Kölnisch Wasser ist verboten.

08:45 Uhr - Feuerzeug in Kaffee geworfen. Haue gekriegt.

09:00 Uhr - In Küche gewesen. Rausgeflogen. Küche ist verboten.

09:15 Uhr - In Papas Arbeitszimmer gewesen. Rausgeflogen. Arbeitszimmer auch verboten.

09:30 Uhr - Schrankschlüssel abgezogen. Damit gespielt. Mama wußte nicht, wo er war. Ich auch nicht. Mama geschimpft.

10:00 Uhr - Rotstift gefunden. Tapete bemalt. Ist verboten.

10:20 Uhr - Stricknadel aus Strickzeug gezogen und krumm gebogen. Zweite Stricknadel in Sofa gesteckt. Stricknadeln sind verboten.

11:00 Uhr - Sollte Milch trinken. Wollte aber Wasser. Wutgebrüll ausgestoßen. Haue gekriegt.

11:10 Uhr - Hose naß gemacht. Haue gekriegt. Naßmachen verboten.

11:30 Uhr - Zigarette zerbrochen. Tabak drin. Schmeckt nicht gut.

11:45 Uhr - Tausendfüßler bis unter Mauer verfolgt. Dort Mauerassel gefunden. Sehr interessant, aber verboten.

12:15 Uhr - Dreck gegessen. Aparter Geschmack, aber verboten.

12:30 Uhr - Salat ausgespuckt. Ungenießbar. Ausspucken dennoch verboten.

13:15 Uhr - Mittagsruhe im Bett. Nicht geschlafen. Aufgestanden und auf Deckbett gesessen. Gefroren. Frieren ist verboten.

14:00 Uhr - Nachgedacht. Festgestellt, daß alles verboten ist. Wozu ist man überhaupt auf der Welt?

Helmut Holthaus - Aus dem Buch „Texte für die Primarstufe TP 3" (Schroedel 42 023) (C) 1973

Wer kann sich noch an die alten TP Bücher erinnern, die von Schülern gern „TolPatsch" genannt wurden und in der Grundschule, in den 70er und 80er Jahren, deren ständige Begleiter waren? Dieses Szenario mit dem kleinen Tilli (so hieß der Junge), hat mich damals in der Grundschule sehr belustigt, hat mich aber auch gleichzeitig fragen lassen, welches „Kölnisch Wasser" denn so besonders wäre, daß Mama und Sohn ab dem Verschütten desgleichen so einen unschönen Tag haben. Es mußte wohl ein außergewöhnliches Duftwasser sein. Echt Kölnisch Wasser von 4711 scheidet also schonmal aus. 4711 war nämlich auch in den 70ern leicht und überall zu bekommen, günstig war es obendrein. Seit Ende 90er Jahre weiß ich, daß es ein Kölnisch Wasser gab, das nicht nur schwerer zu bekommen, sondern auch "schöner" war als 4711. Es war ein alter Flakon "Farina Gegenüber", das ich auf einem Flohmarkt in Köln erstehen konnte. Kurz darauf sprach ich eine etwas reifere Freundin (eine Ur-Kölnerin) an und fragte, ob sie noch das alte „Kölnisch Wasser" von Farina Gegenüber kannte. Sie strahlte und sagte, daß ihre Mutter und all die Damen aus dem Kaffeekränzchen den Farina dem 4711 vorgezogen hätten. Ich fragte sie, was der Unterschied im Duft gewesen wäre. „Der Nelkeneinschlag" war ihre kurze und bündige Antwort.

Und mit diesem „Nelkeneinschlag" komme ich zum Kern meines Kommentars und dem Grund, warum so ein einfaches „Wässerchen" ein paar Worte mehr verdient als eine gewöhnliche Duftbesprechung.
Daß es sich hier um Nelke handelt, ist fraglich. Bisher habe ich nur drei Quellen ausfindig machen können, die diese „würzige These" unterstützen. Da wäre erst einmal Apicius, der in seinem Kommentar zu "Original Eau de Cologne" meint, "Kardamom" oder Ähnliches zu riechen. Die zweite Quelle wäre meine bescheidene Nase: ich habe doch jahrelang tatsächlich an eine Mischung aus Gewürznelken und Koriander gedacht. Doch den Vortritt lasse ich der dritten Quelle, die als einzige sowohl professionell als auch neutral anzusehen wäre. Der H&R Duftatlas von 1997 zählt als Inhaltsstoffe für "Kölnisch Wasser" von Farina Gegenüber (1714) nämlich Folgendes auf:

Top Note: BERGAMOT, CITRUS, ORANGE, Petitgrain, Neroli
Middle Note: Rosemary, Rose, Carnation
Base Note: Musk

Hier sei angemerkt, das Carnation der englische Begriff für Gartennelke ist. Weiterhin sei angemerkt, daß hinter den Namen "Original Eau de Cologne" (1709) und "Kölnisch Wasser" (1714) wahrscheinlich der gleiche Duft steht. Nur fünf Jahre später unter deutschem Namen erneut eingeführt, um Verwechslungen auszuschließen. Der leider auch wieder sehr schnell viele Nachahmer fand.

Doch zurück zu unserem Duft und dem damit verbundenen, ominösen „Nelkeneinschlag". Mit diesem Nelkenton eröffnete Farina der Parfumkultur ganz neue Wege. Waren die sogenannten „Wässer" bis dahin nur Erfrischungswässerchen, die kurzfristig beleben sollten, so hatte man jetzt eine ganze Base, die man in alle möglichen Richtungen ausbauen konnte. Hatte man bisher nur Rosmarin- oder Lavendel-Wässerchen, die als Aqua Mirabilis (Wunderwasser) von diversen Klöstern hergestellt wurden, oder reine Citrus-Wässerchen auf Bergamotte- und Neroli-Basis, so ließ Farina diese Komponenten zu einem krautigen Wohlgeruch verschmelzen, der später die Grundlage für Fougere- und Chypre-Noten bilden sollte. Man mußte dazu nur Eichenmoos als fixierende Note hinzufügen. Doch um die Vielseitigkeit perfekt zu machen, fügte Farina dieser Komposition noch einen Nelken-Akkord zu, der wahrscheinlich aus Gewürznelke und Gartennelke bestand. Und damit das Durcheinander vollkommen war, kam zur Gartennelke noch ein winziger Schuss Rose-Jasmin-Akkord hinzu. Das mag aus heutiger Sicht sehr simpel klingen; doch zur Zeit Farina's war es „Chaos" pur. Am Ende entstand ein „Wässerchen", das zitrisch, krautig, würzig und blumig gleichermaßen zu sein schien. Mit der Zeit wurden daraus Fougères, Chypres, florale und auch würzig-orientalische Noten kreiert. Es war schon eine Revolution auf dem Parfumsektor. Die nächsten Revolutionen vergleichbarer oder fortführender Art folgten erst viele Jahre später:

"Vetiver" von Floris (1873), Holz-Chypre;
"Fougère Royale" von Houbigant (1882), Fougère;
"L'Origan" von Coty (1906), Floral-Süss;
"Quelques Fleurs" / "Quelques Fleurs L'Original" von Houbigant (1912), Floral;
"Chypre" von Coty (1917), Chypre;
"Knize Ten" von Knize (1924), Leder-Chypre;
"Shalimar" von Guerlain (1925), Ambriiert-Orientalisch;

sowie viele weitere „Meilensteine" der Parfumgeschichte, die den Beginn weiterer Unterfamilien bildeten. Lediglich "N°5" von Chanel war eine der wenigen, davon unabhängigen Erneuerungen. N°5 machte 1921 die Aldehyde salonfähig.

Was zurückbleibt, ist ein schlichter Duft von ungleich großer Raffinesse, der noch heute Millionen Menschen weltweit erfrischt oder gar betört. So ein Kunstwerk bekommt schon mal die Höchstwertung von mir. Nicht weil ich auf Citrus stehe, sondern seiner Bedeutung als Vorreiter all meiner Schätze wegen. Will mich jetzt noch jemand belächeln, daß ich dem Schöpfer des "EdC" einen Besuch an seinem Grab abstatten und Nelken darauf legen möchte ?
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