Anosmia
Die Pamphlete einer anosmischen Parfuma
vor 9 Jahren - 26.01.2015
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Welt ohne Geruch

Anosmie, so hat es mir irgendwann das allwissende Internet verraten, ist gar nicht so selten. Diverse Krankheiten, aber auch kleine Infektionen und Unfälle können einen vorrüber gehenden oder auch dauerhaften Verlust des Geruchssinn bewirken.

Ich bin schon von Geburt an anosmisch, geruchsblind. Niemand weiß warum. Das fiel sehr lange niemanden auf. Der Geruchssinn ist nicht derart zentral im Alltag und es gibt kaum Situationen, in denen anosmische Menschen an Grenzen stoßen, etwas nicht tun können.

Unvergessen ist für meine Ma und mich eine Situation aus meiner frühen Kindheit, als sie mir "zum Spielen" ein paar Duftproben aushändigte. Sie war als duftbegeisterte Person bestimmt entzückt, dass die Tochter bereits so früh ihre Nase testet. Tatsächlich fiel mir zu den kleinen Glasröhrchen nichts Anderes ein, als meine Gummiunterlage (Schutz der Matratze vor bettnässenden Kleinkindern) unter dem Bettlaken vorzuziehen und auf dieser sämtliche Pröbchen zusammen zu schütten. Das war in den 80ern, das Duftergebnis dürfte also enorm gewesen sein. Für mich war das Experiment damit beendet. Ich werde aber niemals den Gesichtsausdruck vergessen, mit dem meine Mutter ins Kinderzimmer gestürmt kam um das Fenster auf zu reißen.

Irgendwann fiel mir dann auf, dass alle Menschen um mich herum immer mal über etwas reden, was ich nicht wahr nehme. Um nicht aufzufallen, begann ich sie einfach zu imitieren. Es spricht Bände über meinen Eindruck von der Welt des Geruchs, dass ich mir als Tarnsatz "Es stinkt nach Kacke!" aussuchte. Ich weiß nicht, warum ich glaubte, das Nicht-riechen-können verstecken zu müssen. Jedenfalls ließ ich immer mal wieder diesen Alibi-Satz fallen und war dann ganz verwundert, dass die Leute oftmals umgehend in Panik gerieten - "Was? Wo?" - ich hatte natürlich gar keine Vorstellung davon, was ich da eigentlich sagte. Irgendwann saß ich mit meinem Bruder da und gestand ihm, ich könne gar nicht riechen, ich würde immer nur so tun. Er strahlte breit und verkündete, bei ihm sei es genauso. Nach dem wir unser Geheimnis eine Weile zelebriert hatten, fingen wir damit an, uns zu "outen". Erstaunlicherweise war niemand in der Lage, sich das nach nur einmal Erzählen zu merken, selbst unsere Familie vergaß regelmäßig wieder, dass wir nichts riechen konnten und hielt uns z. B. Kakao unter die Nase. Das ist so geblieben. Weil man Anosmie nicht sieht, muss ich Leuten in der Regel mehrmals sagen, dass ich nichts rieche, bis sie es sich wirklich merken.

Als wir uns später anfingen selber was zu kochen wurden meine Eltern panisch - es gelang uns spielend, das Essen mitsamt einem Topflappen auf dem Herd verbrennen zu lassen und währenddessen entspannt ein Buch zu lesen, weil wir den Rauch nicht rochen. Die Brandgefahr ließ sich mittels Rauchmelder bannen, ein anderes Anosmie-Thema war weniger leicht: die Körperhygiene. Was das anging, nahmen mein Bruder und ich zwei unterschiedliche Wege: Ich wurde paranoid. Täglich duschen, am besten noch 5mal Katzenwäsche am Tag zusätzlich, immer das Deo erneuern und jeden Tag den kompletten Klamottenberg des Tages in den Wäschekorb. Es hat ewig gedauert, mir einige Macken wieder etwas ab zu gewöhnen. Mein Bruder hingegen vertrat selbstbewusst die Meinung "Wer riechen kann ist selber schuld!" und ignorierte sämtliche Kritiken, Bitten und gerümpften Nasen, selbst Flehen und Drohen half nur begrenzt. Man musste ihm zeitweise die Klamotten aus dem Zimmer klauen, sonst wären sie nie in der Waschmaschine gelandet. Unvergessen der Moment, als wir einen Sommer mit Freunden in seiner Wg herum hingen und mein Bruder aufgefordert wurde, nun doch endlich mal seine Strümpfe zu wechseln. Er grinste maliziös, zog sich einen Strumpf vom Fuß und warf ihn erbarmungslos in Richtung Nasenmenschen. Den Reaktionen nach zu urteilen hatte er gerade mit dem olfaktorischen Äquivalent der Atombombe geworfen. Alles stob auseinander. Ich opferte mich und brachte den Atommüll ins Endlager, auf den Balkon. Und war mal wieder ganz fasziniert vom Riechen.

Mein Bruder wurde dann natürlich von seinen ersten Freundinnen zu Hygiene und Höflichkeit gegenüber Nasenmenschen erzogen. Anosmie betrachtet er nach wie vor aber nicht als Mangel, sondern klaren evolutionären Vorteil. Ich bin da anders. Da ich nie riechen konnte, konnte ich auch nichts vermissen, aber die Neugier war riesig und ich war oft wütend, dass mir eine komplette Welt nicht zugänglich war. Ich liebte es, wenn mir jemand Gerüche erklärte, am besten mit Sätzen wie "Das riecht, wie sich unbehandeltes Holz anfühlt". Aber viele Menschen riechen dann doch nicht so viel, können es nicht beschreiben oder interessieren sich einfach nicht so sehr für diesen Sinneseindruck, dass sie gerne einen ganzen Tag den Geruch von Brot, Lilien, Holz und Menschen beschreiben wollen.

Was den Geschmack angeht - eine Frage, die mir oft gestellt wird - Ich schmecke natürlich auch weniger als eine riechende Person. Gewürze und Kräuter im Essen nimmt man ohne Nase nicht wahr. Trotzdem schmeckt für mich Honig anders als Rohrzucker und der wiederum anders als weißer Zucker, warum auch immer. Ich schmecke tatsächlich nur süß, sauer, salzig, scharf, bitter. Ich esse trotzdem gern - ich glaube, was ich mag beurteile ich anhand der Zusammensetzung der Grundgeschmacksrichtungen im Essen und ob ich die Konsistenz des Essens als angenehm empfinde (Fettränder, Graupen, Knorpel und Kaviar gehen gar nicht).

Vor drei Jahren schenkte mir meine Ma "Chanel Nr 5 Eau Premiere" zu Weihnachten. Ich fand einfach, zu einer Person mit riesen Klamotten-, Schuh-, Kosmetik- und Nagellacksammlung müsste mindestens auch ein Parfum gehören, völlig egal, ob ich das selber roch. Als es dann da stand, auf der Kommode, wollte ich mehr darüber wissen, wie es roch, noch mehr Eindrücke als die meiner Ma und einer Freundin. Also googlte ich und landete schließlich auf Parfumo.

Mit Worten - selbst mit ganz vielen - ist es nicht zu beschreiben, was es mir bedeutet hat, auf dieser Seite zu landen. Ich glaube, ich habe hier die ersten drei Monate nach der Entdeckung quasi gewohnt. Und alle möglichen Kommentare, Glossare, Forendiskussionen und Blog-Artikel gelesen. Hier hatten sich also die Leute versteckt, die meine Neugier befriedigen konnten! Mir hat sich hier eine ganze Welt erschlossen, ob es nun um Düfte und Erinnerungen, die verschiedenen Wahrnehmungen einzelner Duftnoten oder den Unterschied zwischen Wald und Wiese ging.

Und deshalb DANKE -Danke an die Initiatoren der Seite, die das alles möglich gemacht haben, Danke an alle, die hier - mal fantasievoll und bildreich, mal präzise analysierend - ihre Dufteindrücke teilen und vor allem Danke, dass es hier niemand langweilig oder nervig findet, wenn ich wissen will, wie ein Parfum oder einfach nur ein Stück Holz riecht.

Zum Schluss: Ich habe mir die kleine Ausgabe des Luca Turin Parfüm-Guides geholt. Ehrlich gesagt fand ich das verglichen mit Parfumo langweilig. Das ist vielleicht meine spezielle Sicht der Dinge, weil mir eine persönliche, bildreiche Beschreibung eines Parfums viel mehr bringt, ich entwickle eine klarere Vorstellung im Kopf. Aber trotzdem frage ich mich seitdem eins: Warum ist noch niemand hier auf die Idee gekommen, die 100 beliebtesten Parfums der Parfumo-Community plus all der Duftbeschreibungen und den ganzen tollen Fotos in einem Buch zu veröffentlichen?

Ich bin mir sicher, das wäre ein Renner. Nicht nur bei Menschen mit Anosmie. :-D

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