Girlain
Girlains Blog
vor 7 Jahren - 27.12.2016
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Tabu oder die Geschichte meiner "Schwester"

Meine Mutter nahm ein kleines Mädchen unter ihre Fittiche, nachdem diese arme Waise ihre Mutter durch einen sehr plötzlichen und tragischen Unfall verloren hatte. Die Kleine hatte schon bis dahin kein leichtes Leben gehabt, sie war von ihrem älteren Bruder sexuell missbraucht worden, seit sie sechs Jahre alt war. Darüber hinaus war sie nicht gerade „von Natur aus verwöhnt“, wie die Franzosen sagen würden (äußerlich war sie keine Schönheit). Dieses Mädchen, das per Zufall zu so etwas wie einer verrückten, unberechenbaren Schwester für mich wurde, wuchs von einer zugeknöpften kleinen Gelehrten zur wildesten Rebellin heran – und zwar nicht in der Weise, die zu der Zeit allgemein angesagt war. Sie war vielmehr ihre eigene Schöpfung und exzentrisch auf eine Art, die bis dahin niemandem bekannt war. Sie war, und verdiente es, als solche bezeichnet zu werden, eine Individualistin: Ein kräftiger Wirbelwind, mit dem gerechnet werden muss.

All die Jahre, die ich sie kannte, und das waren viele, trug sie immer nur Tabu und erklärte ihre Liebe dazu für unsterblich. Ich kaufte ihr riesige Flaschen mit Schraubverschluss davon zu Weihnachten. Meine Erinnerungen an diesen Duft haben ein durchgehendes Leitmotiv: Weihrauch. Alles an diesem Mädchen roch nach Weihrauch. Nachdem meine Mutter gestorben war, blieben wir enge Freunde und Verbündete. Natürlich verabscheute meine leibliche Schwester sie und etliche Familienangehörige fanden sie gelinde ausgedrückt seltsam. Nur sich selber treu bleibend, lebte sie ihr merkwürdiges Leben weiter. 22 Jahre lang lebte ich in Paris und sie in Kalifornien. Wir schrieben uns Briefe, wie Leute das damals noch taten, und immer wusste ich schon vor dem Öffnen meines Briefkastens, das Post von ihr gekommen war, weil ich es durch das Metallgitter schon riechen konnte.

Sie besuchte mich mehrmals in Paris. Beim ersten Mal trampelte sie schwitzend in mein Apartment, eine Art Penthouse im 7. Stock, und erklärte sich als so traumatisiert durch die Reise, dass sie es während ihres ganzen Aufenthalts – der, wie ich mich erinnere, ein sich lang hinziehender war – kaum verlassen würde. Im Verlauf Ihres Besuchs saß sie für Stunden und ganze Tage auf meiner Dachterasse, unterhielt meine Hunde, ließ meine Kanarienvögel fliegen, putzte und schrubbte jeden Zentimeter meiner Einrichtung und las.

Ihr passierten ständig alle Arten seltsamer Begebenheiten. Bei einem anderen Besuch wurden wir auf dem Friedhof Pere Lachaise versehentlich eingeschlossen und mussten die Nacht in einer aufgebrochenen Gruft verbringen, wo wir uns aus Angst vor den bösartigen Wachhunden versteckt hatten, die stundenlang mordlustig durch das riesige Gelände zogen.

Sie mochte nur Dinge die von Tragik oder Traurigkeit überschattet waren. Sie war mit dem analytischen Geist einer wahren Intellektuellen gesegnet. Als sich unsere Beziehung dem Ende zuneigte, lebte sie in einem baufälligen Haus, eigentlich mehr ein Schuppen, in den Hügeln ausserhalb von Los Angeles, nicht weit von da entfernt, wo die berüchtigte Manson Familie zusammengefunden hatte. Beim Einzug in das Haus, für das sie wöchentlich Miete zahlte, fand sie im Küchenschrank im obersten Fach eine Box mit Ziplock-Beuteln, die der Vormieter zurückgelassen hatte. Sie ließ sie dort und benutzte von Zeit zu Zeit einen der Beutel, den sie jedes Mal herauszog, indem sie sich streckte und auf die Zehenspitzen stellte, da es eine dieser enormen „supersized“ 1000-Stück Exemplare war, die man in den USA häufig findet. Eines schicksalhaften Tages angelte sie wieder nach einer Plastiktüte und fand keine mehr, wobei die Box sich aber immer noch schwer anfühlte. Als sie sie herunternahm, fand sie dicht an dicht gepackt Stapel von 100-Dollar-Noten, insgesamt an die 50.000 Dollar. Sie machte sich sehr fleissig daran, den vorherigen Bewohner, der aus der Wohnung geräumt worden war, zu finden, hatte aber keinen Erfolg.

Nach 2 Jahren mit diesem Geld kaufte sie schließlich ein kleines Stück Land in den desolaten, trockenen Hügeln ausserhalb von Los Angeles und baute ein Art Baumhaus darauf. Soweit ich weiss, lebt sie dort immer noch, es sei denn, sie hat sich mittlerweile umgebracht oder zu Tode getrunken, Gesten, die bereits wiederholt die Handlung ihrer Lebensgeschichte bstimmt hatten.

Wenn ich an Tabu denke, denke ich an sie und wie jeder Ort an den sie ging und alles, was sie anfasste, hinterher nach Weihrauch duftete.

Ein interessantes Detail zum Namen „Tabu“ möchte ich noch hinzufügen. Tabu in der entsprechenden Bedeutung wird auf französisch Tabou geschrieben. Der Parfümeur, die Firma und der gesamte Kontext der Parfums sind französisch, so dass es eigentlich nicht sein kann, dass das Wortspiel niemandem aufgefallen ist: Tabu klingt, französisch ausgesprochen exakt wie der Satz „T'as Bu“, der übersetzt bedeutet: Du hast getrunken!

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