Baudelaire 2009

Karli
23.10.2015 - 08:25 Uhr
20
Top Rezension

Leinensäcke aus Sri Lanka

Während ich hungrig in mein Butterbrot beiße, sehe ich den Staub im faden Licht der Mittagssonne über den Dielenboden tanzen. Draußen ist es hell und ich höre Schwalben wie sie hoch über uns nach Mücken und Fliegen haschen - frei und grenzenlos! In Gedanken bin ich bei ihnen und jage mit ihnen durch die Luft.
Wo sie wohl im Winter waren, diese kleine Kunstflieger? Im Winter, wenn es hier bei uns kalt und ungemütlich ist, wenn die Finger steif sind und die Arbeit doppelt schwer. Vielleicht waren sie ja dabei, als die großen Schiffe in Afrika und Asien mit allen möglichen Gütern beladen wurden. Vielleicht haben sie zugeschaut, wie Säcke und Kisten in diesen riesigen schwimmenden Kisten verschwanden. Säcke und Kisten, die wir hier in Hamburg per Flaschenzug und Muskelkraft bis hinauf in die 4 Etage ziehen müssen. Baumwolle ist dabei, Kakao, Kaffee, Tee und Gewürze aller Art und aus aller Herren Länder.

Hamburg, das Tor zur Welt! Die Schwalben werden davon nichts wissen - aber ich erlebe es jeden Tag.

Meine Pause ist um, so zumindest gibt es mir mein Vorarbeiter zu verstehen. Die schwachen Glühlampen werden wieder eingeschaltet und die Sackkarren aus der Ecke geholt. Ein letzter Schluck kalter Tee aus der Blechkanne und weiter geht’s. Mit ausgebeulten Hosen und verschlissenen Schuhen schlendere ich mit meinen 3 Kumpels zurück zum großen Balkon. Unten dümpelt ein Kutter, vollbeladen mit Leinensäcken und großen Kisten. Ein Matrose ruft uns zu, er habe Gewürze geladen, die sollen bei uns erst einmal untergebracht werden.
Als er die Ladeluke auf Deck öffnet strömt mir gleich ein herrlicher würziger Duft entgegen. Ich lasse das Seil des Flaschenzugs herunter und 2 Matrosen vom Kutter befestigen sie an der ersten Palette. Ich fang an zu zählen und entdecke auf den ersten Blick mindestens 15 dieser Paletten. Na dann mal los! Mit 3 Mann betätigen wir die Kurbel am Flaschenzug und holen eine Palette nach der anderen ein. Am Ende sind es genau 22 Stück, vollgepackt mit 100kg Leinensäcken auf denen „Sri Lanka“ steht. Mein Vorarbeiter regelt das mit den Papieren, so bleibt mir der wahre Inhalt verborgen. Aber dafür darf ich etwas verschnaufen.

Der ganze Speicher duftet nach kräftig-krautigen Gewürzen. Alles wirkt zwar grün wie frisch gepflückt, aber dennoch dunkel. Gewürze wie zu Weihnachten erkenne ich nicht, eher irgendwie trocken, wie ich sie bei meinem italienischen Nachbarn vernehme, wenn ich an seinem offenen Küchenfenster vorbeigehe. Alles sehr intensiv, ausdrucksstark und raumfüllend. Ich bin ganz fasziniert.

Mein Vorarbeiter sieht mich und winkt mir zu. Drei große Säcke müssen heute noch weiter an einen Händler in Altona, und wenn ich die Sache nach Feierabend erledige, dürfte ich mir 2 volle Hände aus der Lieferung abschöpfen. Ich zögere nicht eine Sekunde.

Der Arbeitstag vergeht wie im Flug, die 3 Säcke sind ebenfalls schnell ausgeliefert und mit einem kleinen Baumwollbeutel voller Kräuter trete ich den Heimweg an. Menschen, die an mir vorbeigehen, drehen sich nach mir um. Ich merke, dass sie den Duft meinen und bin richtig stolz.
Auch die Begrüßung zuhause fällt heute fröhlicher aus. Meine Frau drückt mich und fragt mich was das für Kräuter sind? Ich habe keine Ahnung, gebe ich ehrlich zu. Dennoch sind wir beide sehr dankbar für diesen besonderen Schatz und verstauen ihn einem großen Holzkästchen im Küchenschrank.

Noch nach Monaten, immer dann wenn wir das Kästchen öffnen und ein paar Kräuter entnehmen, durchströmt unser kleines Zimmer ein holzig, würziger und krautiger Duft. Frisch und grün, aber auch dunkel, schwer und etwas mystisch. Wenn wir dann noch Stunden das Zimmer erneut betreten, ist die Kraft immer noch wahrnehmbar, unverändert und sehr deutlich. Selbst am nächsten Tag ist der Duft nicht gänzlich verschwunden. Die Faszination wie am ersten Tag ist geblieben.

Mittlerweile sind sämtliche Säcke aus unserem Lager verschwunden und andere Gerüche haben Einzug gehalten. Gerüche und Düfte so abwechslungsreich wie die Welt auf der wir leben.
Ein wenig Zeit und Erinnerungen durfte ich dennoch festhalten: Zuhause in meinem Holzkästchen. Erinnerungen an einen warmen Sommertag, an jagende Schwalben, an Leinensäcken aus Sri Lanka, an neugierig schauende Menschen auf der Straße und einem fröhlichen und dankbaren Abend mit meiner Frau.

Was ein Duft doch so alles bewirken kann.
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