13.10.2017 - 06:24 Uhr
FvSpee
323 Rezensionen
FvSpee
Top Rezension
38
Vergesst Baudelaire!
Ein gelungenes Parfüm als Gesamtkunstwerk, das den Geist und die Seele zum Schwingen bringt, besteht nicht nur aus dem Duftwasser an sich, sondern fast ebenso sehr aus seinen Akzidentalia: Seiner Farbe, der Form und dem Material seines Flakons und seiner Verpackung. Da verhält es sich nicht anders als bei einem guten Essen, das, um den perfekten Genuss zu bieten, nicht nur die richtige Geschmackskomposition, sondern auch ansprechende Form und Farbe aufweisen und auf einem schönen Teller präsentiert sein sollte.
Zu diesen Akzidentalia gehört auch der Name des Duftes. Er weckt Erwartungen, beflügelt unsere Phantasie, lenkt unsere Duftwahrnehmungen in eine bestimmte Richtung. Bei Byredos „Baudelaire“ war dies, wie die Kommentare und Statements zeigen, in geradezu mustergültiger Form der Fall.
Das Leben des französischen Dichters, Kritikers und Übersetzers Charles Baudelaire war ein Höllenritt aus körperlichen und psychischen Krankheiten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Erfahrungen des Scheiterns in Beruf und Liebe und schließlich Verarmung, Elend und Tod. In seinem Werk setzt sich Baudelaire sich mit diesen Erfahrungen auseinander; es kann teils als Aufbäumen gegen die Kräfte der Dunkelheit und Zerstörung gelesen werden, gleichsam als Versuch einer Selbsttherapie, teils aber auch als kokettes Spiel am Abgrund, als affirmative oder jedenfalls resignative Feier einer korrupten Schönheit. Die Titel zweier Hauptwerke des Namensgebers dieses Duftes sprechen für sich: „Les fleurs du mal“ („Die Blumen – oder Blüten – des Bösen“) und „Les paradis artficiels“ („Die künstlichen Paradiese“ – Über Drogenerfahrungen). Sein Gedicht „Spleen“ ist ein mustergültiges literarisches Abbild schwerer klinischer Depression.
Die ganz überwiegende Anzahl der hier zu lesenden Rezensionen knüpft hieran an und attestiert „Baudelaire“ vorwiegend enorm verstörende, abgründige, düstere, geradezu selbst- und fremdmörderische Qualitäten. Mit jeweils ganz eigenen Akzentuierungen kann hier (bloß exemplarisch) auf die sprachlich und deskriptiv-analytisch ihr Prädikat „erstklassig“ absolut zu Recht tragenden literarischen Miniaturen von Cravache, Ergreifend und Turandot verwiesen werden. Dabei wird jedoch auch ein wesentlicher Unterschied erkennbar: Die ersten beiden goutieren das Grauen: Cravache nimmt verwesende Leichen war, Ergreifend spürt, wie ihr die Seele ausgesaugt wird, und beide honorieren dies mit Höchstwertungen. Turandot dagegen schreckt vor dem Abgrund zurück, bewertet den Duft niedrig, entschuldigt sich aber bei uns für ihre vermeintliche Nervenschwäche.
Ich halte diese Herangehensweise an „Baudelaire“ für legitim und fruchtbar, nicht aber für zwingend. Ich plädiere dafür, einen alternativen Zugang zu diesem Duftkunstwerk zu eröffnen, der es vielleicht erforderlich macht, die Bande, die uns an seinen Namen anhaften lassen, beherzt mit dem Schwert zu durchhauen, und zuerst einmal alles zu vergessen, was wir je über den traurigen Charles gehört haben.
Dies könnte dazu führen, dass wir – so wie es bei mir der Fall ist, und in durchaus seltener Dufteinmütigkeit auch bei dem Näschen an meiner Seite – diesen Duft als ungemein schön empfinden, und dabei als zwar aufregend besonders, als kontrast- und spannungsreich, aber nicht als verstörend, weder im Sinne der Wahrnehmung einzelner übelriechender Noten, noch im Sinne von Dissonanzen in der Komposition.
Ich nehme eine Anfangsphase von etwa einer halben Stunde oder etwas mehr wahr, die ich beim ersten „Volltest“ eher als trockene, kräftige, dezidiert unsüße Würzigkeit begriff, um beim nächsten Versuch am Folgetag dann auch einen noch immer unsüßen, etwas bitteren und dabei überraschend fruchtigen Ton zu verspüren. Die mehrstündige Hauptphase, bei der nach meinem Dafürhalten keine Einzelnote dominiert, imponiert mir ernst, kontrastreich und dynamisch, ja, ein wenig kühl und vielleicht sogar dunkel, aber durchaus auch kraftvoll-energisch. Wenn die Duftpyramide hier Hyazinthe, Leder und Weihrauch angibt, glaube ich das aufs Wort und halte dafür, dass die Wacholderbeere aus der Kopfnote noch und das würzigfrische Amber und wohl auch Papyrus (ohne dass ich genau wüsste, wie das riecht) aus das Basisnote schon in diesen Gesamteindruck hineinspielt, wie überaupt Kopf- und Herznote hier kongenial ineinander übergehen. Ein bisschen weniger der Fall ist dies allerdings beim Übergang von der Herznote in die stabile, bei mittlerer Dosierung auch noch nach 14 Stunden sanft wahrnehmbare, stark von Patchouli geprägte Basis. Ich empfinde diese als zwar sehr angenehm, aber als im Vergleich zum vorherigen dynamischen Geschehen etwas zu stark abfallend. Das ist dann sehr schön und sehr irenisch, aber gar nicht mehr aufregend, was dem Duft bei mir die Chance auf eine Höchstbewertung nimmt.
Drei Düfte, die ich sehr mag, und die ich für „verwandt“ mit diesem Duft halte – allerdings eher frei assoziierend im Sinne einer entfernten geistigen Verwandtschaft und natürlich überhaupt nicht im Sinne von „Duftzwilling“ – sind „Dior Homme“ (minus dessen tiefe, satte Weichheit; stattdessen härter, kühler und offener), „Ambre 114“ von „Histoire des Parfums“ (minus dessen überbordende Opulenz, dafür strenger, reduzierter und konzentrierter) und „Heritage“ von Guerlain (minus dessen prickelnd-verspielte zitrische Frische in der Kopfnote, dafür sehr viel frontaler) – überhaupt empfinde ich „Baudelaire“ als ziemlich guerlinesk.
Das Ausblenden aller mit dem Leben und Werk des Dichters verbundener Assoziationen könnte dann weiter dazu führen, dass dieser schöne, kraftvoll-drängende und ernste Duft ganz andere Bilder und Werte aufsteigen lässt als an Hölle und Dämonen. Dieses Kappen der Nabelschnur zum Namen „Baudelaire“ könnte zur Folge haben, dass wir bei diesem Duft nicht im Geringsten an Vampire, Leichen, Moder und Elend denken müssen. Ich musste es nicht. Mir kamen beim Testen sehr helle und humanistische Impulse, etwa solche des wackeren Aufspürens von verborgener Schönheit und Menschlichkeit und des ruhigen und stetigen Kampfes gegen Leid und Niedertracht.
Und, ganz am Rande, wir dürfen dies tun! Wir sind nicht moralisch verpflichtet, nach etwaigen Spuren von Dekadenz und Krankheit in diesem Duft zu suchen. Wir müssen nicht einmal zwingend die Werke von Baudelaire lesen (auch wenn diesen Schönheit und Wert nicht abgesprochen werden soll)! Wir dürfen das sogar tun, ohne uns mit dem Gefühl vom Platz schleichen zu müssen, Weicheier, Schattenparker und Warmduscher zu sein. Denn auch wer dem menschlichen Elend in all seinem Ernst und seiner irreduziblen Größe ins Gesicht zu sehen bereit ist, muss keineswegs ein Freund seiner literarischen oder olfaktorischen Poetisierung sein.
Habe ich aber nicht eingangs gesagt, dass der Name zum Duft untrennbar dazugehört? Nun, stellen wir uns vor, dass Byredo mit der Namensgebung „Baudelaire“ eine ironische falsche Fährte legen wollte. Oder dass gar nicht Charles Baudelaire gemeint ist, sondern der (bislang völlig unbekannte) tapfere, durch Heldentaten des Alltags glänzende Feuerwehrmann Jean-Pierre Baudelaire aus der Pariser Banlieue.
Zu diesen Akzidentalia gehört auch der Name des Duftes. Er weckt Erwartungen, beflügelt unsere Phantasie, lenkt unsere Duftwahrnehmungen in eine bestimmte Richtung. Bei Byredos „Baudelaire“ war dies, wie die Kommentare und Statements zeigen, in geradezu mustergültiger Form der Fall.
Das Leben des französischen Dichters, Kritikers und Übersetzers Charles Baudelaire war ein Höllenritt aus körperlichen und psychischen Krankheiten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Erfahrungen des Scheiterns in Beruf und Liebe und schließlich Verarmung, Elend und Tod. In seinem Werk setzt sich Baudelaire sich mit diesen Erfahrungen auseinander; es kann teils als Aufbäumen gegen die Kräfte der Dunkelheit und Zerstörung gelesen werden, gleichsam als Versuch einer Selbsttherapie, teils aber auch als kokettes Spiel am Abgrund, als affirmative oder jedenfalls resignative Feier einer korrupten Schönheit. Die Titel zweier Hauptwerke des Namensgebers dieses Duftes sprechen für sich: „Les fleurs du mal“ („Die Blumen – oder Blüten – des Bösen“) und „Les paradis artficiels“ („Die künstlichen Paradiese“ – Über Drogenerfahrungen). Sein Gedicht „Spleen“ ist ein mustergültiges literarisches Abbild schwerer klinischer Depression.
Die ganz überwiegende Anzahl der hier zu lesenden Rezensionen knüpft hieran an und attestiert „Baudelaire“ vorwiegend enorm verstörende, abgründige, düstere, geradezu selbst- und fremdmörderische Qualitäten. Mit jeweils ganz eigenen Akzentuierungen kann hier (bloß exemplarisch) auf die sprachlich und deskriptiv-analytisch ihr Prädikat „erstklassig“ absolut zu Recht tragenden literarischen Miniaturen von Cravache, Ergreifend und Turandot verwiesen werden. Dabei wird jedoch auch ein wesentlicher Unterschied erkennbar: Die ersten beiden goutieren das Grauen: Cravache nimmt verwesende Leichen war, Ergreifend spürt, wie ihr die Seele ausgesaugt wird, und beide honorieren dies mit Höchstwertungen. Turandot dagegen schreckt vor dem Abgrund zurück, bewertet den Duft niedrig, entschuldigt sich aber bei uns für ihre vermeintliche Nervenschwäche.
Ich halte diese Herangehensweise an „Baudelaire“ für legitim und fruchtbar, nicht aber für zwingend. Ich plädiere dafür, einen alternativen Zugang zu diesem Duftkunstwerk zu eröffnen, der es vielleicht erforderlich macht, die Bande, die uns an seinen Namen anhaften lassen, beherzt mit dem Schwert zu durchhauen, und zuerst einmal alles zu vergessen, was wir je über den traurigen Charles gehört haben.
Dies könnte dazu führen, dass wir – so wie es bei mir der Fall ist, und in durchaus seltener Dufteinmütigkeit auch bei dem Näschen an meiner Seite – diesen Duft als ungemein schön empfinden, und dabei als zwar aufregend besonders, als kontrast- und spannungsreich, aber nicht als verstörend, weder im Sinne der Wahrnehmung einzelner übelriechender Noten, noch im Sinne von Dissonanzen in der Komposition.
Ich nehme eine Anfangsphase von etwa einer halben Stunde oder etwas mehr wahr, die ich beim ersten „Volltest“ eher als trockene, kräftige, dezidiert unsüße Würzigkeit begriff, um beim nächsten Versuch am Folgetag dann auch einen noch immer unsüßen, etwas bitteren und dabei überraschend fruchtigen Ton zu verspüren. Die mehrstündige Hauptphase, bei der nach meinem Dafürhalten keine Einzelnote dominiert, imponiert mir ernst, kontrastreich und dynamisch, ja, ein wenig kühl und vielleicht sogar dunkel, aber durchaus auch kraftvoll-energisch. Wenn die Duftpyramide hier Hyazinthe, Leder und Weihrauch angibt, glaube ich das aufs Wort und halte dafür, dass die Wacholderbeere aus der Kopfnote noch und das würzigfrische Amber und wohl auch Papyrus (ohne dass ich genau wüsste, wie das riecht) aus das Basisnote schon in diesen Gesamteindruck hineinspielt, wie überaupt Kopf- und Herznote hier kongenial ineinander übergehen. Ein bisschen weniger der Fall ist dies allerdings beim Übergang von der Herznote in die stabile, bei mittlerer Dosierung auch noch nach 14 Stunden sanft wahrnehmbare, stark von Patchouli geprägte Basis. Ich empfinde diese als zwar sehr angenehm, aber als im Vergleich zum vorherigen dynamischen Geschehen etwas zu stark abfallend. Das ist dann sehr schön und sehr irenisch, aber gar nicht mehr aufregend, was dem Duft bei mir die Chance auf eine Höchstbewertung nimmt.
Drei Düfte, die ich sehr mag, und die ich für „verwandt“ mit diesem Duft halte – allerdings eher frei assoziierend im Sinne einer entfernten geistigen Verwandtschaft und natürlich überhaupt nicht im Sinne von „Duftzwilling“ – sind „Dior Homme“ (minus dessen tiefe, satte Weichheit; stattdessen härter, kühler und offener), „Ambre 114“ von „Histoire des Parfums“ (minus dessen überbordende Opulenz, dafür strenger, reduzierter und konzentrierter) und „Heritage“ von Guerlain (minus dessen prickelnd-verspielte zitrische Frische in der Kopfnote, dafür sehr viel frontaler) – überhaupt empfinde ich „Baudelaire“ als ziemlich guerlinesk.
Das Ausblenden aller mit dem Leben und Werk des Dichters verbundener Assoziationen könnte dann weiter dazu führen, dass dieser schöne, kraftvoll-drängende und ernste Duft ganz andere Bilder und Werte aufsteigen lässt als an Hölle und Dämonen. Dieses Kappen der Nabelschnur zum Namen „Baudelaire“ könnte zur Folge haben, dass wir bei diesem Duft nicht im Geringsten an Vampire, Leichen, Moder und Elend denken müssen. Ich musste es nicht. Mir kamen beim Testen sehr helle und humanistische Impulse, etwa solche des wackeren Aufspürens von verborgener Schönheit und Menschlichkeit und des ruhigen und stetigen Kampfes gegen Leid und Niedertracht.
Und, ganz am Rande, wir dürfen dies tun! Wir sind nicht moralisch verpflichtet, nach etwaigen Spuren von Dekadenz und Krankheit in diesem Duft zu suchen. Wir müssen nicht einmal zwingend die Werke von Baudelaire lesen (auch wenn diesen Schönheit und Wert nicht abgesprochen werden soll)! Wir dürfen das sogar tun, ohne uns mit dem Gefühl vom Platz schleichen zu müssen, Weicheier, Schattenparker und Warmduscher zu sein. Denn auch wer dem menschlichen Elend in all seinem Ernst und seiner irreduziblen Größe ins Gesicht zu sehen bereit ist, muss keineswegs ein Freund seiner literarischen oder olfaktorischen Poetisierung sein.
Habe ich aber nicht eingangs gesagt, dass der Name zum Duft untrennbar dazugehört? Nun, stellen wir uns vor, dass Byredo mit der Namensgebung „Baudelaire“ eine ironische falsche Fährte legen wollte. Oder dass gar nicht Charles Baudelaire gemeint ist, sondern der (bislang völlig unbekannte) tapfere, durch Heldentaten des Alltags glänzende Feuerwehrmann Jean-Pierre Baudelaire aus der Pariser Banlieue.
12 Antworten