Mikadomann
Mikadomanns Blog
vor 4 Jahren - 26.07.2020
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Die wiederentdeckte Freude am Schreiben

Vorrede:

Der folgende Text über das Schreiben entstand, als ich mich entschloss, einen Kommentar zu dem Duft ‚Lyric Man’ zu verfassen. Dabei wollte ich den Kommentar zunächst kurz mit einigen allgemeinen Gedanken einleiten und erläutern, warum ich trotz bereits vielfältiger anderer Kommentare und Statements zum Duft ‚Lyric Man‘ einen weiteren, eigenen Kommentar verfasse. Irgendwann bemerkte ich dann, dass das Format nicht mehr stimmte und dass die Länge des Textes, der nur als kurze Vorrede gedacht war, die Grenzen sprengte. So entstand ein Text über das Schreiben...

Ich beginne ihn - obwohl ich gelernt habe, dass ich damit Fläche biete - noch einmal so:

Ich bin Lehrer – Deutschlehrer

Meine Aufgabe ist es nicht nur, Schülerinnen und Schülern Kompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, Texte zu verstehen, sich Informationen zu erarbeiten. Es ist nicht nur meine Aufgabe, Schülerinnen und Schüler zum Lesen zu motivieren.

Meine Aufgabe besteht auch darin, Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, eigene Texte zu schreiben, zu überarbeiten, zu beurteilen und zu veröffentlichen.

Meine Aufgabe besteht darin, Schülerinnen und Schüler zum Schreiben eigener Texte zu motivieren.

Seit ich hier in diesem Forum angemeldet bin, stelle ich mir die Frage, wie es sein kann, dass so viele Menschen so viele und ausführliche Texte in ihrer Freizeit schreiben. Diese Texte, die häufig so komplex und in Form und Art - ja, sogar Gattung so vielfältig sind, machen Recherche, Planung, Überarbeitung, Korrektur notwendig.

Das kostet Zeit und macht Mühe.

Mit der Veröffentlichung der Texte gehen alle Schreiberinnen und Schreiber das Risiko ein, kritisiert zu werden.

Sie gehen das Risiko ein, dass man ihre Texte verwirft, ihnen (hoffentlich angemessen höflich) widerspricht, sie missversteht, oder - was möglicherweise schlimmer ist - ihre Texte nicht beachtet.

Dabei sind vielleicht nicht einmal alle versierte Schreiberinnen und Schreiber und vielleicht kostet es einigen von ihnen - und ich schreibe hier besser:

Vielleicht kostet es einigen von uns viel mehr, als alle glauben, diese Texte zu veröffentlichen und sich damit hier selbst öffentlich zu machen.

Woher kommt die Motivation, so viel Geist, Mühe und Zeit zu investieren?

Denn seien wir ehrlich: Das Schreiben von Texten gehört in dieser Breite doch eigentlich nicht zu den bevorzugten Freizeitgestaltungsmöglichkeiten unserer Zeit. Und weiter:

Die Textformen, die hier entstehen, bilden doch in den meisten Fällen unsere von digitalen Medien beeinflussten Kommunikationsformen nicht mehr ab. Die Nachricht über WhatsApp, der rasche Eintrag bei Twitter und die rasch übermittelte Nachricht per Mail haben unser Schreibverhalten verändert und sind nicht zu vergleichen mit den geschliffenen Texten, die manche Foristen hier veröffentlichen.

Ich möchte dabei zuerst und nur kurz auf das Format des Statements schauen, weil dies meines Erachtens in seiner Kürze noch Besonderheiten aufweist im Vergleich zum Kommentar:

Vor einiger Zeit habe ich hier in diesem Forum an irgendeiner Stelle eine Bemerkung gelesen, in der es etwa hieß, dass Statements deutlich hilfreicher und aussagekräftiger seien als die meisten Kommentare.

Ich konnte den Grundgedanken dieser Aussage nachvollziehen. Durch die Kürze des Statements ist es für Interessierte einfacher, sich rasch über einen Duft zu informieren und möglicherweise auch Anregungen zu finde, Düfte zu entdecken, die man noch nicht kannte. Zusammen mit der Bewertung und im Vergleich mehrer Statements kann man sich einen ersten Eindruck verschaffen, ob der Duft möglicherweise in die eigene Sammlung passt, ob er dem eigenen Geschmack nahe kommt, oder ob man ihn doch recht rasch verwerfen kann. Außerdem sind Ausführungen in der Form eine Statements häufig eine Freude für die Leserin oder den Leser, wenn durch Wortwitz und durch gekonnte Verknappung manchmal sprachliche Kleinode entstehen.

Für die Schreiberin und für den Schreiber ist das Verfassen eines Statements jedoch eine Herausforderung:

In wenigen Zeichen einen Duft so pointiert darzustellen, dass die eigene Einschätzung und der Charakter des Duftes deutlich werden, dabei möglicherweise die Leserin und den Leser zu informieren und sogar noch gut zu unterhalten - das ist eine anspruchsvolle Schreibaufgabe.

Und nun:

Wie kommt es dazu, dass wir Parfuma und Parfumos hier Zeit, Mühe, Arbeit investieren in das Verfassen von Kommentaren? Wie kommt es dazu, dass wir das Risiko der Veröffentlichung und der Kritik eingehen?

Ich habe für mich zunächst drei Gründe ausmachen können:

  1. Reflektierende Selbstvergewisserung

In der Verschriftlichung der eigenen Eindrücke eigne ich mir den Duft noch einmal an und denke darüber nach, was mich an diesem Duft fasziniert und woran ich möglicherweise scheitere.

Ein reflexiver, personaler Schreibanlass und mindestens bei mir - ich will ehrlich sein - ein egoistisches Schreibmotiv.

2. Meinungsbildung

Ich möchte andere Menschen auf diesen Duft aufmerksam machen. Ich möchte sagen: „Seht! Riecht! Hier ist ein Duft, mit dem habe ich mich beschäftigt und ich möchte, dass ihr Euch mindestens durch Lektüre meines Kommentars ebenfalls mit diesem Duft beschäftigt, ihn eventuell sogar selbst probiert und ebenfalls hier Eure Erfahrungen kommuniziert. Ich will für ihn werben oder ich will von ihm abraten. Am Ende denke ich vielleicht sogar, dass Ihr ihn selber probieren, kaufen und tragen sollt.“

So entsteht ein appellativer Text und auch ein Schreibmotiv vor dem Hintergrund einer sozialen Einbindung in ein Forum Gleichgesinnter.
Im weitesten Sinne ist das auch kommunikatives Schreiben, denn es liegt darin die Aufforderung an die Leserinnen und Leser zu reagieren, zu antworten, zuzustimmen, zu widersprechen und eigene Meinungen und Erfahrungen aufzuschreiben.

3. Die Freude an der Übersetzung der olfaktorischen Erfahrung in Sprache

Ich schreibe gerne!
Dabei geschieht im besten Falle Folgendes: Die Übersetzung der olfaktorischen Erfahrung in sprachliche Bilder gelingt so, dass die Analyse des Duftes eingeflochten ist in eine Textminiatur anderer Form oder Gattung.
Die Aneignung einer Duftkomposition über die Sprache ist für mich ein gutes Mittel, den Duft in meiner eigenen, laienliterarischen Form zu analysieren. Manchmal geschieht es dann, wenn ich den Duft erneut auflege, dass Bilder in meinem Kopf wiedererstehen, die ich bei der Kommentierung verschriftlicht habe. Möglicherweise sind diese Texte und diese Bilder darüber hinaus dann auch noch für andere Leserinnen und Leser hilfreich und bieten Reflexionsfolien für die eigene Auseinandersetzung mit dem Duft.

Eine Parfuma schrieb einmal, dass manche Nutzerinnen und Nutzer die Foren als literarische Spielwiese nutzten.
Ich meine, das stimmt. Und - auch hier will ich ehrlich sein - es stimmt mindestens für mich.

Ein Motiv also zwischen Freude an der Sache und literarischer Selbstüberschätzung.
Ein Schreibanlass zwischen informierendem und unterhaltendem Schreiben - Literarisches Schreiben im allerweitesten Sinne ist das und zwar unter der frohen und schmunzelnden Anerkennung der eigenen Stümperhaftigkeit, der eigenen Grenzen und des Scheiterns.

Allen, die bis hierher gedanklich mit mir gegangen sind, möchte ich sagen, dass ich ausschließlich von mir schreibe und dass ich auch weiß, dass es durchaus auch andere, sehr persönliche und sehr individuelle Motivationen für das Schreiben eines Kommentars gibt. Auch möchte ich noch einmal unterstreichen, dass das hier keine wissenschaftlich basierte Abhandlung über den Lernbereich der Textproduktion ist. Es sind Gedanken, die mich seit einiger Zeit beschäftigen und die ich jetzt zu Papier bringe, ‚mit leichter Feder entworfen’.

Als Lehrer, der viele Schüler im Rahmen der diversen Schreibkompetenzen ringen und scheitern gesehen hat, stelle ich mir nun folgende Fragen:

Sind alle Foristen hier eigentlich ganz selbstverständlich und von Beginn an Schreiberinnen und Schreiber?
War xxx schon als Schülerin so analytisch, wortgewandt und sprachsicher?
War yyy bereits in der Schule ein so motivierter Schreiber, dessen Phantasie in Sprache übersetzt zu Gedankenreisen einluden und der mit märschenschönen Formulierungen verzauberte?

Und wie kommt es, dass selbst Menschen, für die Schriftsprache auch ganz offensichtlich eine Herausforderung darstellt, hier Texte veröffentlichen, in denen sie über ihren Lieblingsduft schreiben, ohne Angst vor Kritik und Korrektur, ohne sich zu sorgen vor orthografischen oder stilistischen Fehlern?

Meines Erachtens ist der wichtigste auch der wunderbarste Grund:

LEIDENSCHAFT FÜR DIE SACHE!!!

Wir schreiben motiviert und wir sind anstrengungsbereit, wenn wir appellieren, informieren, unterhalten im Zusammenhang mit Dingen, die wir lieben!

Wir schreiben klug, abwechslungsreich, adressatenbezogen, vielfältig in der Form, unterhaltsam, pointiert, phantasievoll, wenn wir über Dinge schreiben, die für uns Bedeutung haben. Wir legen unsere Sorge vor Kritik und Korrektur beiseite, wenn uns der Inhalt wichtig ist, den wir transportieren wollen.
Wir sehen sogar die Notwendigkeit ein, sich verletzbar zu machen, wenn es um etwas geht, was wir unbedingt mitteilen möchten, obwohl wir wissen, dass unsere Gedanken und Meinungen möglicherweise provozieren.

Und noch etwas, was mir wichtig erscheint:
Wir schreiben, wenn unsere Texte nicht im Leeren verhallen.

Wir schreiben motiviert, wenn wir wissen, dass Leserinnen und Leser sich für die Texte und für für uns als Verfasserin oder Verfasser interessieren
Wir schreiben mit dem Ziel der Kommunikation.

Wir schreiben, um eine Antwort zu erhalten. Wir schreiben, weil wir hoffen, eine Diskussion in Gang zu bringen. Wir schreiben, weil wir hoffen, als Reaktion neue Informationen zu bekommen oder einen Hinweis zu erhalten, der uns weiterhilft. Vielleicht schreiben wir sogar, gerade weil wir Kritik und Korrektur erwarten.

Wir kommunizieren im Übrigen mit unseren Texten auch dann, wenn wir keine direkte Reaktion bekommen. Aber wenn wir eine Reaktion bekommen, die wertschätzend und höflich und warmherzig ist, die uns korrigiert, lobt, weiterbringt, feiert und eben auch klug kritisiert - dann ist wirklich Kommunikation im Sinne von Kontakt entstanden.

Könnten wir also etwas von Parfumo lernen?

Wenn ich an anderer Stelle die Frage gestellt habe, was literarische Figuren und was Lesen mit Parfumo zu tun hat, dann stelle ich jetzt noch einmal die Frage, was Parfumo mit der Kompetenz der Textproduktion, mit Aufsätzen, Betrachtungen, Essays, Reflexionen und Erörterungen zu tun hat. Was hat Parfumo zu tun mit Schreibmotivation und Schreibkompetenz? Was mit Schreibprozessen? Was mit Planung, Entwurf, Redaktion und Veröffentlichung von Texten?

Wir schreiben über Dinge, die uns wichtig sind, die wir gern haben, für die wir eine Leidenschaft entwickeln!

Hätten einige von uns in der Schule eine erfolgreichere und vor allem eine freudvollere Schreibsozialisation erlebt, wenn Freude und Leidenschaft für die Sache Grundlagen für die Entstehung der eigenen Texte hätten sein dürfen?

Ich höre bereits die Kritiker, die fragen, ob Schülerinnen und Schüler in der Schule nun auch nur noch über die Dinge schreiben sollen, die sie interessieren. Sollen sie nur noch über Filme, Musik, Computerspiele, Freizeitgestaltung und pubertätsbedingte Gefühlsanliegen schreiben? Ich spiele hier mit den Klischees der Argumente. Ich weiß, dass Schülerinnen und Schüler einen deutlich weiteren, einen sehr weiten Interessenshorizont haben.

Die Antwort auf die oben gestellte Frage also:
Nein! Das sollten sie so wenig tun, wie sie nur noch Comics und Unterhaltungsliteratur lesen sollen. Und die Entstehung von Texten ist genauso wenig beliebig, wie es Interpretationen literarischer Werke und Personen sind.

Aber wenn Schülerinnen und Schüler wirklich Kompetenzen erwerben sollen, wenn sie Freude am Schreiben erfahren sollen, wenn sie Erfolge und wenn sie Motivation erleben sollen, dann sollte der Blick in der Schule erweitert werden und wir sollten erkennen, dass ein Schreib(lern)prozess dann erfolgreich ist, wenn Menschen über etwas schreiben, von dem sie etwas verstehen und für das sie brennen.

Der Weg zum Verständnis darf und sollte dabei immer wieder auch herausfordernd sein. Auch wir hier in diesem Forum sind herausgefordert, wenn es darum geht, einen Duft zu verstehen, sich ihn zu erarbeiten, Hintergründe zu sammeln.

Wie großartig wäre es, wenn wir in der Schule Menschen ausbildeten, von denen demnächst einige klug, witzig, informiert, hilfreich, motiviert und angstbefreit in einem Forum, das ‚Parfumo‘ heißt Texte schrieben und ihre Leidenschaft für Düfte mit uns teilten!
Wie großartig wäre es, wenn es uns in diesem Forum gelänge, die vielen Texte, die mit Mühen entstanden sind, zu honorieren mit wertschätzendem Lob und einfühlsamer Kritik!

Ich will wieder zu meiner Ausgangssituation zurück. Mein Vorhaben, einen Kommentar zu schreiben über ‚Lyric Man‘ von Amouage.

Ich werde diesen Kommentar bald schreiben, obwohl es bereits viele andere Texte zu diesem Duft gibt, bessere Texte, vielleicht klügere.

Was kann ich einer nahezu literarisch-erzählerischen Annäherung des Parfumo ‚Positron‘, der vor zehn Jahren einen Kommentar mit dem Titel „ Freibrief zur Muße“ verfasst hat, den ich bewundere, in Form und Inhalt noch hinzufügen?
Wie sollte ich der hervorragend gelungenen vergleichenden Analyse von „12 Rosendüften für den Herrn“ eines ‚Micscent‘ auch nur einen weiteren wertvolleren ergänzenden Gedanken hinzufügen?
Wie könnte ich Salvas und Egalités Begeisterung übertreffen, die aus jedem ihrer Worte klingt?

Genau so, wie ich auch von Schülerinnen und Schülern erwarte und erhoffe, dass sie in der Schule nicht immer denen alleine das Feld überlassen, die Dinge und Zusammenhänge rasch durchdringen, will auch ich hier meine eigenen Gedanken demnächst nicht zurückstellen und ich hoffe, dass diese Gedanken vielleicht nur einen einzigen Schritt weiterführen werden, eine kleine weitere Anregung sein werden. Vielleicht werde ich damit informieren, werben, unterhalten. Vielleicht werde ich damit eine Diskussion entfachen.

So werde ich also bald über ‚Lyric Man’ schreiben. Die oben genannten Punkte sollen meine Rechtfertigung sein und meine Motivation.

Darüber hinaus aber… Nein!...
Vor allem selbstverständlich:
Die pure Liebe und die unbändige Begeisterung für diesen herrlichen Duft, der mich seit einigen Wochen begleitet und von dem ich sagen kann, dass ich für mich in ihm und mit ihm etwas Besonderes entdeckt habe, werden durch den Text klingen und sie werden mir Ansporn sein für mein Schreiben.

Der ‚Lyric Man’ war also Ausgangspunkt und Inspiration für meine Gedanken hier. Daher soll er hier als gedankliche Keimzelle auch für diesen Blog gewürdigt sein.

Nachtrag:

Ein Kriterium für einen guten Text ist die angemessene Länge und eine gekonnte Kürze.
Seid Euch der Einsicht des Verfassers gewiss: Ich weiß, dass ich dieses Kriterium nicht erfüllt habe.
Ich bitte um Nachsicht.

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