L'Orpheline - Fragen an Serge Lutens zu seinem neuen Duft

Noch ein Mädchen?*

Ja, wenn man davon ausgeht, dass sie der verlassene Teil meiner selbst ist. Als Kind habe ich die Welt zweigeteilt. Auf der einen Seite stand die Besiegte – nicht die Verliererin! – oder genauer gesagt, das, was in ihr keimte und das ich schließlich aus mir selbst ans Licht holte. Auf der anderen Seite stand der Sieger.

Für ein Kind gibt es nur drei Personen auf der Welt: es selbst, seine Mutter und seinen Vater. Ohne, dass jemand so eine klare Wahl trifft wie ich, wird jeder Mensch ein Leben lang von diesen dreien abhängig sein.

Haben Sie sich für Ihre Mutter entschieden?

Nicht für die Mutter, sondern für ihre Verletzlichkeit. Ich habe sie übernommen. Zweifellos eine Identifikation.

Wie jeder von uns verdanke ich mein Leben dem Zufall. Dem Zufall, den wir vom Würfeln kennen, diesem verfluchten Spiel, und der uns dahin bringt, wo wir geboren werden oder gar nicht erst hinkommen. Ich zähle jetzt nicht wieder die prägenden Episoden meines Schicksals auf, aber der Unterschied zwischen dem, was war, und dem, was ich fühlte, war gewaltig. Dennoch sind Kinder hellsichtig: Sie sehen vieles voraus. Da ich der Verletzung alle Eigenschaften des Weiblichen eingeräumt habe, hat sie mich bestimmt.

Haben Sie also schon vor dem Zeitpunkt an alles Männliche in sich negiert?

Hinsichtlich aller öffentlichen Zwänge wie Armee, Autorität, Macht, Ordnung und Moral: ja. Ich führte Krieg mit dem Männlichen, das ich als das Böse begriff. Von diesem Moment an habe ich eine Frau erdacht und sie mit mir ans Licht geholt, einer Art Blutstaufe.

Kommen wir auf das Weisenmädchen zurück. Sind Sie das?

Nein, zunächst war das ein unberührtes Neuland, es zog mich an aber ich erkannte mich in ihm nicht wieder. Dieses Gebiet, das mir zuwider war, war das das Männer. Meine Mutter war die Wut und ich, ihr Sohn, ihre Rache.

Und wo ist dabei der Vater?

Der Vater ist der erklärte Feind. Ich war der Hass auf Erden, auf den Vater. Ich war die Galionsfigur meiner Mutter und der Mörder meines Vaters. Die Wunde heilt nicht. Ich versuchte, mich selbst zu blenden, aber ich sah es: Der Vater war unsterblich. Von ihm habe ich das Weibliche bewahrt, das er verraten hatte.

Was hat Sie durch diesen Irrgarten zu Ihrem Duft geführt?

Die Erinnerung, das Verzeihen und das, was heute von all dem übrig ist: Staub. Das Wort ist im Französischen nicht nur weiblich, sondern es besitzt auch keinen Plural. Es ist die Duftspur meines Lebens, das, was bleibt, wenn alles verschwunden ist. Es ist unsichtbar und überzieht im Zuge des Vergessens alles mit einem grauen Schleier, Schicht für Schicht.

Serge Lutens

*Orpheline bedeutet Waisenmädchen (Anm. d. Ü.)

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