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vor 9 Jahren - 31.10.2014
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Kein Applaus für Scheiße

Hat jetzt wenig mit Parfum zu tun: Es geht ein seltsamer Ruck durch Deutschland. Wahrscheinlich sollte man das pragmatisch sehen: Eine Gesellschaft, der es verhältnismäßig gut geht, sucht sich Feindbilder, gegenüber denen sie sich abgrenzen kann. Man konnte das heute an – inzwischen gelöschten – Kommentaren zu 1 Million sehen.

Man könnte versucht sein, zu sagen, dass man das nicht überwerten sollte: Da hat sich Frust Bahn gebrochen, der wahrscheinlich ganz woanders herkommt, und die Kommentierung eines Parfums war dann mehr so der Kanal dafür. Erschrocken hat mich weniger der Kommentar selbst (der war nicht so wahnsinnig gelungen, aber nicht so heiß, dass er einer Löschung bedurft hätte). Erschrocken hat mich, dass es dafür fast 30 Pokale gab. Das hat selten ein Kommentar hinbekommen.

Es scheint eine Stimmung zu gären, in der es zunehmend anerkannt wird, Abgrenzung und Nicht-haben-wollen nach außen zu tragen, nach dem Motto „Endlich traut sich mal jemand“. Menschen, denen Abgrenzung im Blut liegt, haben es ja zunehmend schwer heutzutage. Gegen Ausländer kann man nicht mehr so richtig sein, weil ja gar nicht mehr so klar ist, wer eigentlich Ausländer ist und wer nicht. Genauso schwer haben es dann auch Gutmenschen, weil Kampagnen à la „Jeder Mensch ist Ausländer – fast überall“ (Hallo, beklebte 80er Jahre-Mülltonnen) heute so gar nicht mehr gehen. Offen gegen Homosexualität einzustehen, erfordert dann auch schon Mut und eine Verdrehung ins Positive: Man darf gar nicht mehr sagen, dass man Angst vor Schwulen hat, also konterte man das Outing von Thomas Hitzlsperger mit einer Einforderung von traditionellen Familienwerten, anstatt einfach offen zuzugeben, dass man es jetzt voll doof findet, dass Fußballprofis ihr Leben lieber mit Männern verbringen.

Verblüffenderweise lösen und weichen sich Grenzen im Kopf damit offensichtlich nicht einfach auf, sie verschieben sich einfach auf Andere. Und mit dieser Verschiebung findet auch eine Radikalisierung der Ablehnung statt, frei nach dem Motto „Irgendeine Ablehnung werden wir schon finden, die mehrheitsfähig ist“. Im konkreten Fall hat das eine sehr klischeebehaftete Gruppe von Menschen getroffen, die hier sehr verschrien ist und die es so wahrscheinlich gar nicht gibt: Den durchschnittlichen 1 Million-Träger.

Und was wurde er nicht alles geziehen! Gedroht habe er, mit mehr oder weniger unverhohlener Gewalt. An übel beleumundeten U-Bahn-Stationen sei er eingestiegen, oder habe sich in deren Nähe aufgehalten, oder zumindest eine Linie benutzt, die dort hält, oder zumindest die U-Bahn. Man verzeihe mir, dass ich hier vielleicht den Kommentar und die Antworten darauf durcheinander bringe, denn – wie schon geschrieben – fand ich die Reaktion darauf für das, was ich so wahrnehme, weitaus beängstigender als den Kommentar selbst.

Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, hat (glaube ich) Rosa Luxemburg mal gesagt. Ein weises Kalendersprüchlein, ohne viel konkreten Bezug zum Parfum, und vielleicht auch ohne viel konkreten Bezug zum wirklichen Leben.. Von daher im Nachhinein dann vielleicht doch noch einen halben Pokal dafür, dass jemand seine Meinung gesagt hat. Die fantastischen Vier werden in diesen Tagen 25, und die haben auch ein Kalendersprüchlein geliefert, nämlich „Kein Applaus für Scheiße“. Das klingt vielleicht nicht ganz so druckreif, trifft den Nagel aber auf den Kopf: Wahrscheinlich wusste der User gar nicht richtig, was er damit lostritt. Aber manchmal ist Abgrenzung einfach ein Trendsetter.

Dabei muss ich mich übrigens auch schuldig bekennen: Ich habe mich auch schon über den durchschnittlichen, klischeebehafteten 1 Million-Träger lustig gemacht. Das ist hier auch nachlesbar. Allerdings stand für mich dabei im Vordergrund, positives über andere Düfte zu sagen. Vielleicht fliegt mir gleich um die Ohren, dass ich der schlimmste von allen bin, weil ich keine radikalen Bekenntnisse abgeben kann. In Deutschland hat man das aufgegeben, spätestens seit Angela Merkel in der Elefantenrunde 2013 den Satz "Jetzt hören Sie mal auf zu meckern, so schlecht geht's uns hier nicht" geprägt hat.

Ich mag übrigens Spinat nicht.

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