Vetiver 1959 Eau de Toilette

Mirror
02.09.2015 - 18:58 Uhr
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Sehr hilfreiche Rezension

Knallharte Hausnummer

Große Namen - dicke Bretter, Guerlain eine der ältesten noch funktionierenden Marken hat einen Klassiker am Start: "Vetiver". Von verschiedenen Kommentaren neugierig geworden, machte ich mich auf die Suche und wurde schnell im gut sortierten Fachhandel fündig. Ich war so spitz wie nie auf diesen Langzeitkandidaten. Fast schmucklos, dunkelgrün und selbstverständlich, die Verpackung. Ein im Stil der Entstehungszeit, etwas hausbacken designter Flakon des Zerstäubers. Grünlich die Farbe der enthaltenen Flüssigkeit, assoziierte erstmal die grüne Wiese, vielleicht schon ein wenig sommerlich, wartend. So wie ich.

Voll Erwartung und mit entsprechender Chuzpe an die Pumpe und der Länge nach auf den Unterarm aufgelegt. Was kann schon kommen? Das wird ne todsichere Nummer, das Zeug ist über 50 Jahre im Handel und 1959 wird man doch auch schon gewusst haben was gut ist. Kurz warten und dann ran mit dem Riechorgan ans Duftbankett. Ui….ein Duft wie… die späteren Nachkriegsjahre. Ehrlich, Zitronenlimonade zuckerfrei, leicht angewärmt von Orange, aber Citrus deutlich überlegen. Das geht leider nur kurz gut, dann schlägt eine Note zu die alte Stalingradkämpfer noch im Original erlebt haben. Eine Kriegserklärung an die Schleimhäute, irgendwo zwischen brennenden Reifen, kokelnden Fensterahmen und ausgelaufener Batteriesäure. So riecht der Todernst des Lebens, ich schwör´s. Der Pfeffer macht es eher schlimmer, weil er die Sensorik für die –ich denke es ist die Muskatnote, aufreißt. Man will nur noch weg. Das Problem: der Arm kommt mit. Okay, ich wollte es ja so und setzte mich also dennoch mit diesem unrasierten Wiedergänger der Petticoat-Ära auseinander. Kompromisslos synthetisch wie das meiste aus den 50ern, die Zeit des (in Frankreich dezenten) Wirtschaftsaufschwungs, der Kunststoffentwicklung, macht dieser Duft keine Gefangenen. Wer unvorsichtig die Augen schließt, bleibt Luft schnappend in Ruinen zurück zwischen denen die Note verbrannten Lackes hängt wie Spinnweben der Zeit. Irgendwann ist der Hauch der Zerstörung nur noch ein Menetekel auf der Haut. Während die junge Generation angesichts an der Basis zurückkehrender Citrusnoten noch von Seifentönen schwärmt, erleidet die reifere Generation beim Erstkontakt mit der Basisnote unweigerlich einen Flashback in die Kindertage. Man hat das Gefühl, man stehe wieder vor einer alten Munitionskiste auf der die Waschschüssel trohnt. Die Mutter hat ihren Lausebengel nach dem Spieltag mit den Nachbarskindern in Schutt und Scherben, von Kopf bis Fuß mit der guten alten Kernseife durchgescheuert. Davon brennen die Augen genauso wie die aufgeschlagenen Knie während man unauffällig versucht den Seifengeschmack auf der Zunge los zu werden. Die Luft ist noch lau, der Abend noch hell und jung aber man muss trotzdem ins Bett, während sich die Erwachsenen leise schwatzend im Wohnzimmer versammeln. Das ist was (mir) bleibt: Ich kann gut nachvollziehen, dass es diesen Duft noch gibt, mir persönlich ist es ein bisschen zuviel SM für die Sensorik. Er ist so bemerkenswert weil abstoßend und anziehend zugleich. Unglaublich arrogant, dekadent bis zum abwinken, der Art-House Film des Parfums. Das mag das Geheimnis sein mit dem Guerlain „Vetiver“ erfolgreich als ein modernes Kunstwerk der 50er Jahre etabliert hat. Die sind heute meist teuer aber Zitronenlimo, eine Tracht Prügel und Kernseife gibt’s auch günstiger. Erinnerungen jedoch sind so unbezahlbar wie Inspiration.
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