Top Rezension
Zeitlos modern, zeitlos schön
Dieser Duft ist traumhaft. Er ist unerhört gut komponiert und trägt seinen Namen zu Recht, denn er "singt" auf der Haut. Er ist leise und macht sich doch aufs Charmanteste bemerkbar. Er hat eine klare stilistische Linie, zwingt aber seiner Trägerin nichts auf, lässt ihr jede Freiheit. Er kommt selbstbewusst daher, zugleich bescheiden; nicht als Monument, sondern mit einem verschmitzten Augenzwinkern – es ist eine "Leute-nehmt-mich-nicht-zu-ernst-ich bin nur-schönste-Nebensache-der-Welt"-Geste dabei.
So weit erstmal. Und wie komme ich jetzt näher dran? Ich versuch's mal so:
Das Andersen-Märchen "Des Kaisers neue Kleider" gehört umgeschrieben. Das kleine Kind, das am Schluss mit seinem Satz "Er hat ja gar nichts an!" die Geschichte wendet, irrt. Es hat Schnupfen. Und so merkt es nicht, dass der Kaiser mitnichten nichts trägt: Duft umgibt ihn als feine, perfekt sitzende Hülle, von Kopf bis Fuß…
Stop. Kein "Es war einmal", das passt nicht. Dieser Duft gehört ins Hier und Heute.
Wobei er natürlich dem Erscheinungsjahr 1962 Tribut zollt: Er ist traditionell gemacht, der Parfumeur hat alle Zutaten-Register gezogen und die Bestandteile so dicht verwoben, dass man kaum Einzelnes herausschnuppern kann. Sozusagen – um im "Gesangs"-Bild zu bleiben – großer sinfonischer Chor. Der bringt Volumen. Und ist ansonsten höchst modern eingesetzt. Verhalten, manchmal nur summend: Nie mehr Aufwand, als nötig ist, um die Idee herauszuarbeiten. Und die ist klar, schnörkellos und knapp gefasst, vom Anfang bis zum Schluss.
Grün. Chypre. Aber geradeaus: kein Zitrus-Tamtam zum Auftakt, frische, blumige und grüne Noten sind sofort innig verschränkt. Das macht den Duft hell und heiter, weich und schmiegsam. Dieser Charakter bleibt. Auch wenn sich im Verlauf viel ändert. So wird die Temperatur immer wärmer. Und die Textur (darf man das von einem Duft sagen?) wird immer samtiger; die wunderbaren Moosnoten des Ausklangs empfinde ich als fast greifbar, als striche man mit den Fingern über dichte Polster am Waldboden. (In der Duftpyramide oben vermisse ich übrigens auch allerhand; ich wette u. a. drauf, dass in der Basis Vetiver mitspielt.)
Zwei Schritte zurück, einen vor, dann begegne ich dem eigenen Duftabbild: Die Aura, die der Duft erzeugt, ist zart, aber präsent. Und sehr beweglich, das leise "Singen" lässt sich immer wieder unverhofft vernehmen, jedesmal ein Lächeln wert. Auch noch beim Einschlafen. Denn dann ist die letzte Duftspur längst noch nicht verflogen, die Haltbarkeit ist phänomenal.
Ich fühle mich erinnert an leichte, fließende Stoffe, Wollgeorgette, Seidencrêpe, Strick, an "Wohnpullover", an Schuhe aus Ziegenleder mit federnden Sohlen; bequem, entspannt, nichts kneift, nichts zwickt. Aber es schlabbert auch nichts. Und bitte Schultern zurück, Kopf hoch – bei aller informellen Lässigkeit, so viel Haltung muss sein :-).
Noch ein Wort zu den 1960ern: In Sachen Design sind sie ein unterschätztes Jahrzehnt. Klassische Moderne, sowas assoziiert man eher mit der Bauhaus-Ära. Aber viele Entwürfe aus den 60ern haben gleiche zeitlos moderne Qualität und sind in Sachen Praxistauglichkeit Bauhaus-Produkten manchmal überlegen. Nur ein Beispiel von vielen (ausgewählt, weil man's bei Interesse leicht googeln kann): "Conseta", Anfang der 60er von Friedrich Wilhelm Möller entworfen, ist ein Sofa in strengen kubischen Formen. Aber der Designer hat nicht "den" Entwurf verfertigt, Copyright-Stempel drauf und gut. Er hat einen Baukasten fabriziert, aus dem man sein Sofa ganz nach Gusto basteln kann; es gibt nicht die eine "richtige" Gestalt, sondern viele.
Im Guerlainschen "Chant d'arômes" finde ich denselben souveränen Umgang mit Design: Hier, Leute, da ist mein Entwurf, nutzt ihn, wie ihr's braucht. Es ist dieselbe unangestrengte, gelassene Modernität. Ebenso wie das Sofa (das gibt es noch!) ist dieser Duft für mich ein moderner Klassiker. Zeitlos. Und zeitlos schön.
So weit erstmal. Und wie komme ich jetzt näher dran? Ich versuch's mal so:
Das Andersen-Märchen "Des Kaisers neue Kleider" gehört umgeschrieben. Das kleine Kind, das am Schluss mit seinem Satz "Er hat ja gar nichts an!" die Geschichte wendet, irrt. Es hat Schnupfen. Und so merkt es nicht, dass der Kaiser mitnichten nichts trägt: Duft umgibt ihn als feine, perfekt sitzende Hülle, von Kopf bis Fuß…
Stop. Kein "Es war einmal", das passt nicht. Dieser Duft gehört ins Hier und Heute.
Wobei er natürlich dem Erscheinungsjahr 1962 Tribut zollt: Er ist traditionell gemacht, der Parfumeur hat alle Zutaten-Register gezogen und die Bestandteile so dicht verwoben, dass man kaum Einzelnes herausschnuppern kann. Sozusagen – um im "Gesangs"-Bild zu bleiben – großer sinfonischer Chor. Der bringt Volumen. Und ist ansonsten höchst modern eingesetzt. Verhalten, manchmal nur summend: Nie mehr Aufwand, als nötig ist, um die Idee herauszuarbeiten. Und die ist klar, schnörkellos und knapp gefasst, vom Anfang bis zum Schluss.
Grün. Chypre. Aber geradeaus: kein Zitrus-Tamtam zum Auftakt, frische, blumige und grüne Noten sind sofort innig verschränkt. Das macht den Duft hell und heiter, weich und schmiegsam. Dieser Charakter bleibt. Auch wenn sich im Verlauf viel ändert. So wird die Temperatur immer wärmer. Und die Textur (darf man das von einem Duft sagen?) wird immer samtiger; die wunderbaren Moosnoten des Ausklangs empfinde ich als fast greifbar, als striche man mit den Fingern über dichte Polster am Waldboden. (In der Duftpyramide oben vermisse ich übrigens auch allerhand; ich wette u. a. drauf, dass in der Basis Vetiver mitspielt.)
Zwei Schritte zurück, einen vor, dann begegne ich dem eigenen Duftabbild: Die Aura, die der Duft erzeugt, ist zart, aber präsent. Und sehr beweglich, das leise "Singen" lässt sich immer wieder unverhofft vernehmen, jedesmal ein Lächeln wert. Auch noch beim Einschlafen. Denn dann ist die letzte Duftspur längst noch nicht verflogen, die Haltbarkeit ist phänomenal.
Ich fühle mich erinnert an leichte, fließende Stoffe, Wollgeorgette, Seidencrêpe, Strick, an "Wohnpullover", an Schuhe aus Ziegenleder mit federnden Sohlen; bequem, entspannt, nichts kneift, nichts zwickt. Aber es schlabbert auch nichts. Und bitte Schultern zurück, Kopf hoch – bei aller informellen Lässigkeit, so viel Haltung muss sein :-).
Noch ein Wort zu den 1960ern: In Sachen Design sind sie ein unterschätztes Jahrzehnt. Klassische Moderne, sowas assoziiert man eher mit der Bauhaus-Ära. Aber viele Entwürfe aus den 60ern haben gleiche zeitlos moderne Qualität und sind in Sachen Praxistauglichkeit Bauhaus-Produkten manchmal überlegen. Nur ein Beispiel von vielen (ausgewählt, weil man's bei Interesse leicht googeln kann): "Conseta", Anfang der 60er von Friedrich Wilhelm Möller entworfen, ist ein Sofa in strengen kubischen Formen. Aber der Designer hat nicht "den" Entwurf verfertigt, Copyright-Stempel drauf und gut. Er hat einen Baukasten fabriziert, aus dem man sein Sofa ganz nach Gusto basteln kann; es gibt nicht die eine "richtige" Gestalt, sondern viele.
Im Guerlainschen "Chant d'arômes" finde ich denselben souveränen Umgang mit Design: Hier, Leute, da ist mein Entwurf, nutzt ihn, wie ihr's braucht. Es ist dieselbe unangestrengte, gelassene Modernität. Ebenso wie das Sofa (das gibt es noch!) ist dieser Duft für mich ein moderner Klassiker. Zeitlos. Und zeitlos schön.
6 Antworten

Sehr, sehr schön. Es hat mir viel Freude gemacht, deine Duftbeschreibung zu lesen.

sehr schöner, stimmiger Kommentar, danke Undine!

Toller Kommentar, damit ist meine Neugierde um ein Weiteres gewachsen.

Super geschrieben und sehr interessante Parallelen! Muss ich unbedingt testen.

Was für ein schöner Kommentar mit Ausblick auf das Jahrzehnt seiner Entstehung! Als Sixties-Fan vergebe ich hier gleich mal ein Pokälchen!

Toller Kommentar zu einem offenbar zeitlos-modernen Duft! Gutes Design ändert sich nicht.