7. Sinnesphysiologische Rahmenbedingungen (Kunst und Schweiß)

Mit der folgenden Frage begebe ich mich in doppelt unbekanntes Terrain: Ungeschriebene Ästhetik der Parfumerie und mir persönlich nicht vertraute Evolutionsbiologie. Aber neulich hatte ich inspirierende Unterstützung bei einem spätnächtlichen, leicht angetrunkenen Gespräch hierüber mit einem Biologen. Zumindest ein paar Überlegungen, die daraus resultieren, sind, denke ich, niederschreibenswert.
Die Frage ist die nach den sinnesphysiologischen Bedingungen der Parfumerie.

Jede Kunst muss logischerweise wahrgenommen werden und bezieht sich demnach mit ihren Mitteln und Möglichkeiten auf den menschlichen Wahrnehmungsapparat. Traditionell spezialisieren sich Kunstformen auf das Bedienen eines Sinns (dort, wo gemischt wird, wird auf jeweils einzelne, bereits ausgereifte Systeme zurück gegriffen). Aber es gibt nicht für jeden Sinn eine Kunstform. Während die Optik ausgiebigst bedient wird und die Akustik auch eine komplette Kunstwelt öffnet, gibt es keine mir bekannte Kunstform, die sich grundlegend der Haptik bedient... und der Geschmacks-/Geruchssinn findet Beantwortung durch Kunst in wenig ausgefeilten Anfängen: Kochen (obwohl eine essentielle Praxis!) und Geschmackskultivierung durch z.B. Kelterei oder Konfiserie sind klassisch kunsthandwerkliche Disziplinen und die Parfumerie ist, wie bereits mehrfach festgestellt, eine junge, zarte Kunstform. Es gibt einige Vorstöße in Grenzgebiete, dort, wo sich Meister/innen der Küche, des Weinkellers oder der Pralinerie verwirklichen und die Parfumerie hat, seit in der Moderne der Rahmen neu gesetzt wurde, eine Emanzipation erfahren.

Das entspricht, evolutionär betrachtet, durchaus der Rangordnung der Sinne für das Überleben. Unsere Sinne sind unterschiedlich entwickelt. Für den wichtigsten Sinn, das Sehen, hat sich unser Hirn evolutionär so dermaßen erweitert, spezialisiert, quasi fachidiotisch ausgerichtet, dass eine unglaubliche Kompetenz in der Verarbeitung optischer Reize besteht. Entsprechend kann eine Kunstart, die über die Augen aufgenommen wird, sehr viel ansprechen, sehr viel Kapazität nutzen und das Gehirn ungeheuer aktivieren.

Auch extrem wichtig und demnach gut ausgebaut ist unser Hören. Die Kunst, die unsere Ohren und die gekoppelten Hirnregionen nutzt, um wahrnehmen zu lassen, greift ebenso auf eine riesige Summe biologischer Ressourcen zurück.
Geschmack/Geruch und Spüren sind freilich auch überlebenswichtig - alle Sinne sind das - aber eben nicht so enorm ausgebaut und auf die Leistungspitze getrieben.

Unsere Biologie hat uns spezialisiert. So wie mein Hund den Nasenvorteil nutzt, nutze ich den Augenvorteil. Wenn er blind wird, macht es ihm nicht so irre viel aus. Wenn er seinen Geruchssinn verliert, ist das allerdings eine fundamentale Behinderung. Bei mir umgekehrt. Jede/r die/der das hier liest, sollte sich jetzt kurz die Frage stellen: Welchen Sinn würde ich am wenigsten gerne verlieren, bzw. am ehesten verlieren können? Nur wenige Menschen würden als Behinderung die Blindheit wählen, wenn sie auch komplette Anosmie als Alternative hätten.

Ein hervorragendes Beispiel für diese spezalisierte Entwicklung ist das VNO, das Vomeronasalorgan. Ein komplettes Sinnesorgan ist für die Wahrnehmung von Pheromonen (Ectohormonen) zuständig. Beim Menschen sitzt es in der unteren Nasenscheidewand. Während es bei Insekten elementar wichtig ist (z.B. werden Geschlechtspartner darüber erkannt), bildet es sich beim Menschen in der pränatalen Entwicklung zurück: Während die Anlagen beim Fötus in frühen Entwicklungsstadien ausgebildet sind, sieht irgendwann unser genetischer Bauplan nicht mehr vor, dass weitere Energie darauf verwendet wird. Nur gut 50% "fertige", lebensfähige Menschen besitzen überhaupt ein VNO. Und jetzt haben Tests sicher belegt, dass sogar die Menschen, die über ein solches Organ verfügen, es nicht nutzen können. Es gibt keine Verbindung zum Gehirn. Was auch immer das VNO aufnimmt, die Umsetzung in neuroelektrische Impulse wird nicht weiter transportiert, die Information wird nicht verwertet.

Es gibt vielleicht pheromonale Wahrnehmung und unbewusste Kommunikation darüber, aber die entsprechende Wahrnehmungsfunktion ist offenbar zur normalen Riechschleimhaut gewandert.  Immernoch reagieren Frauen auf männlichen Schweiß (über Geruchsbotenstoffe, ob das mit Pheromonen passiert ist noch nicht geklärt und umstritten)... aber unser biologisches Programm hat diese sinnliche Orientierung nicht sehr ausgebaut, keine Spezialisierung in diese Wahrnehmungsart investiert. Man erklärt sich das damit, dass der Mensch einen größeren Überlebensvorteil dadurch gewann, dass die Partnerwahl vornehmlich über die Augen stattfand. Jugend, Gesundheit, Fruchtbarkeit und sozialer Rang werden zunächst optisch wahrgenommen, die geruchliche Zusatzinformation ist nicht unwichtig... aber eben eine zusätzliche. Der Sinn, der aus vielen, vielen anderen Gründen ausgebaut und verfeinert wurde, konnte auch einen großen Bereich an Informationen erbringen, für die ein spezielles Organ zur Verfügung stand. Also wurde dieses Organ vernachlässigt und weitere Energie auf den Ausbau des Superorgans gerichtet.
Wenn also geforscht wird zur unbewussten Kommunikation über Geruchsbotenstoffe, dann sind die Ergebnisse zwar unglaublich spannend und es ist oft verblüffend, welche unbewussten Entscheidungen wir aufgrund von ebenso unbewusster Beeinflussung durch Botenstoffe treffen... aber es ist ganz klar: Die evolutionäre Entwicklung hat den einen Sinn gegenüber dem anderen favorisiert.

Dieser kleine Exkurs macht deutlich, dass unsere Wahrnehmungskapazität durch einen wichtigen, aber im Vergleich weniger wichtigen Sinn, andere Rezeptionsbedingungen für eine Kunstart schafft, die sich an diesen Sinn richtet. Wir riechen weniger differenziert, als mein Hund, erkennen gute Geschlechtspartner/innen weniger an ihrem tollen Schweiß als ein Käfer und freuen uns an unbewussten und nur selten und schwer bewusstmachbaren Effekten der Nasenwahrnehmung. Kein Wunder, dass wir oft keine Worte finden, um Geruchswirkung in Sprache darzustellen, logisch, dass es uns fast unmöglich ist, eine Logik und Systematik zu entwickeln, die feiner und mehr ist, als eine nur ganz grobe Umrisszeichnung. Unser Hirn macht weniger daraus, als es könnte und das, was es daraus macht, spielt sich zu einem Großteil im abstrakt-unbewussten Teil unserer Wirklichkeitsbegenung ab.

Das wichtigste Wort unter den vielen obigen ist das Wort "fast".
Es  ist uns fast unmöglich.

Wenn die Kunst, die den Geruchsinn beantwortet, so jung ist, sich so spät entwickeln konnte, eine so stark eingegrenzte Palette von Ausdrucksmittel hat und auch noch begrenzte Ressourcen unseres Gehirns anspricht... ist es dann nicht umso spannender, sie zu entwickeln, zu erfahren und auszuloten? Dieses Neuland zu erforschen und so weit und gut wie möglich urbar zu machen? Es ist wichtig, das Besondere, Eigentümliche und Andere der Geruchskunst zu fassen und in der Unterscheidung zu anderen Kunstarten mit anderen natürlichen und kultürlichen Voraussetzungen zu beschreiben, um auf die Spur des Wesentlichen und Eigenen zu kommen.

Wir sind Pionierinnen und Pioniere.

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 Kurze Notiz: NEC fehlt mir. Und Parfumo fehlt noch einiges mehr.

 

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