Rebirth2014
Rebirth2014s Blog
vor 6 Jahren - 04.08.2018
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The Walking Scent (die Geschichte eines Horrorsommers)

Tagebucheintrag vom 21. April 2018:

Der Frühling fällt aus. Eine erste Wärmeperiode, mit maximalen 25° C, heizt den Wohnraum auf. Keine Sorge! Meine Parfumflakons befinden sich gut gesichert - in einer dunklen Kiste eingelagert - im wohltemperierten Schlafzimmer. Nur die „toughen“ Düfte, mit starkem Zitruscharakter, dürfen noch raus und ihren Dienst verrichten.


Tagebucheintrag vom 14. Mai 2018:

Nachdem sich die winterlichen Würzlinge und Oudprotze in die hinterste Ecke der Parfumkiste verkriechen, ahne ich nichts Gutes. Hoffentlich schmollen sie nur, da die anhaltende Wärme ihre Dienstzeit in diesem Jahr drastisch verkürzte und sie nun ausrangiert in der Dunkelkammer auf den Herbst warten müssen. Bestimmt spekuliert der ein oder andere Holzling noch auf einen kühlen Tag, an dem er noch einmal seine Wärme abstrahlen darf. Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Selbst die blumigen und pudrigen Vertreter dürfen schon seit einiger Zeit nicht mehr ihre Lebendigkeit versprühen. Bei nun fast 30° C gilt: Zitrus rules!


Tagebucheintrag vom 02. Juni 2018:

Diese Hitze! Tagsüber erwärmt sich der Wohnraum schon auf bis zu 27° C. Doch nachts kühlt es zum Glück noch ordentlich ab. Trotzdem traue ich der vermeintlichen Ruhe in der Parfumkiste nicht. Die älteren Flakons verhalten sich verdächtig schal. Ich untersuche sie und stelle dabei fest, dass "New West" – eigentlich ein frischer Zeitgenosse – entsetzlich nach Sojasauce riecht. Er ist von uns gegangen. In den letzten Jahren hatte ich ihm auch kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. Ein leichtes Schuldbewusstsein schleicht sich ein. Aber er war alt, ist in Ehren von mir gegangen und darf nun auch weiterhin, als Augenschmaus im blauen Flakon, bei den anderen Jungs verweilen.


Tagebucheintrag vom 27. Juni 2018:

Wenn ich in meinem letzten Eintrag von Hitze sprach, wie soll ich die Sonnenglut nun beschreiben? Nachts will es kaum noch abkühlen und das Thermometer in der Parfumkiste zeigt besorgniserregende 24° C an. Ein weiterer Geruchstest treibt mir die Tränen in die Augen. Der einst so schöne "Aramis" schwappt, seinem Kopf beraubt, trüb im Flakon herum. Nein, nicht du! Er ist nicht mehr zu retten. Panisch stelle ich den Ventilator auf und kühle die restlichen Kameraden herunter.


Tagebucheintrag vom 9. Juli 2018:

Es deutet sich eine Epidemie an. In den letzten Tagen erkrankten einige dufte Typen an einer akuten Zitritis. Die Duftnote hatte sich aufgelöst und hinterließ nur die holzige Basis. Kein Wunder, bei dieser Affenhitze! Nun müssen Konsequenzen gezogen werden! Von meinen einst 30 Bewohnern sind nur noch 20 vital und gesund. Soll ich sie vorsichtshalber von den erkrankten Flaschen trennen? Was, wenn nicht nur die anhaltende Hitze für den Zerfall sorgt, sondern ein Virus grassiert? Unsinn! Mensch, reiß dich zusammen! Parfums können kein Fieber bekommen. Aber innerhalb der Kiste sortiere ich sie in die Kategorien: Gekippte Düfte, kopflose Düfte und erhaltene Düfte.


Tagebucheintrag vom 13. Juli 2018:

Jetzt müssen Maßnahmen zur Kühlung eingeleitet werden. Die Flakons haben sich vermischt und andere infiziert. Die Kappen auf den Zerstäubern sind vertauscht und es zeichnet sich ab, dass nicht allein der Aufbewahrungsort zum Problem wird. Bei weit über 30° C bin ich mir nicht sicher, ob ich die Abdeckungen beim letzten Dufttest selbst vertauscht hatte (halte einen Sonnenstich für möglich) oder hier die verflüchtigten Düfte zu bösartigen Wiedergängern mutierten. Ein schrecklicher Gedanke. Aber auch die Realität ist furchtbar! Von den 20 vitalen Düften, sind nun nur noch 12 am Leben. Stündlich lege ich ab jetzt einen Kühlakku in die Kiste.


Tagebucheintrag vom 15. Juli 2018:

Verdammt! Bin heute Nacht eingeschlafen und konnte den Kühlakku nicht rechtzeitig wechseln. Nun gab es nur noch 4 meiner Kostbarkeiten, die erhalten blieben. Als ich diese in den Kühlschrank einlagern wollte, wurde die Milch sauer. Der Tetrapack explodierte und umspülte mein geliebtes "Reflection" und seinen Bruder "Epic". Schon Morgen, in der schonungslosen Hitze, wird die Milch vergoren riechen und auch diese beiden Düfte zur traurigen Erinnerung werden lassen. Mir bleibt keine Zeit für einen Rettungsversuch, solange der masculine "Pluriel" und die Strandhütte von Ammouage mir noch unbeschadet erhalten bleiben können. Den Rest überlasse ich der Apokalypse. Ein dunkler Keller könnte die Rettung sein. Neben alten Weinflaschen erwacht ein Hoffnungsschimmer.


Letzter Tagebucheintrag vom 22. Juli 2018:

Seit einer Woche sitze ich allein mit maculine "Pluriel" im Keller fest. Ich wusste immer, dass er der eine Duft ist, der mir am Ende bleiben wird. Beach Hut täuschte mich! Der Flakon sah so wunderbar wuchtig und massiv aus. Deshalb dachte ich, er würde im Weinregal einen sicheren Platz finden. Aber er war zu schwach, rutschte durch die Halterung und zerbrach auf dem Boden. Erst jetzt fiel mir auf, wie stark der Efeu-Geruch in diesem Gebräu war. Das Moos - an der feuchten Kellerwand - verbindet sich seit dem Unglück mit dem Geist von Beach Hut und quält mich unerträglich in meiner öden Behausung. Pluriel, glaube mir, auch dieser Sommer vergeht. 28 Tage später werden sie uns retten. Bestimmt. Du wirst schon sehen, alles wird gut! Sie werden die Kiste mit den Untoten finden und zerstören. Falls wir es nicht schaffen, soll mein Tagebuch veröffentlicht werden, damit sich andere Parfumsammler/innen besser schützen können.

Seltsam? Aber so steht es geschrieben ... ;-)

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