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vor 4 Jahren - 05.11.2020
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Gualtieris dreckiges Dutzend

Vielleicht geht es der ein oder anderen Person ähnlich: Man kommt in die Parfümerie und wird vom Personal sofort in sonderbare Kategorien eingeordnet, als wären diese Läden die Geburtsstätten aller Klischees.

Wer z.B. nicht bemalt - wie ein biedermeier Bauernschrank - oder eher etwas robust und ungepflegt wirkt, der muss sich Abwertungen gefallen lassen. Es ist eine Scheinwelt, die von Luxusprodukten und Glamour beherrscht wird und einen eigenen „Dresscode“ besitzt.

Hier, auf einer internationalen Parfüm-Messe, läuft ein eher unbekannter Parfümeur herum und schnuppert an den ausgestellten Duftwässerchen der Konkurrenz. Sein Kleidungsstil ist expressiv, wirkt etwas „second hand“ aus der Zeit gefallen und sein Zwirbelbart spiegelt sein feines Gespür für Ironie.

„Ahhhhh! Das ist gut!“, lächelt Alessandro Gualtieri und sucht den Blickkontakt zu der elegant gekleideten Dame, die diesen Duft präsentiert. Dann nickt er ihr wohlwollend entgegen und sagt: „Das ist wirklich gut.“

Damit hat er ihre Aufmerksamkeit gewonnen.

Sie lächelt; noch.

„Ich mag diesen Katzenpo in diesem Duft.“

Sie lächelt; immer noch.

Er wiederholt sich: „Sehr schöner Katzenpo.“

Nun lächelt sie nicht mehr.

Entweder fühlt sie sich provoziert oder überfordert. Dabei wäre es so einfach gewesen, das Gespräch in die richtige Bahn zu lenken:

„Sie mögen Zibet?“

Nein, zu einer fachlichen Diskussion kommt es nicht. Nun könnte man meinen, Herr Gualtieri wäre das Wort „Zibet“ entfallen und er hätte deshalb verzweifelt zu dem Hilfswort „Katzenpo“ gegriffen. Doch nun schauen wir uns seine Ausstellung an.

Aha! Hier steht ein dominierender Katzenpo in Form einer Installation, der als Ausscheidung Gualtieris neusten Duft hervorbringt. Demnach liebt er es zu provozieren.

Doch Alessandro Gualtieri hat auch eine andere Seite, die zwar auch seinem schelmischen Charakter entspringt, doch allein durch Schönheit, Hingabe und Symbolkraft überzeugt.

Er montiert gerade an einer Hauswand einen kleinen Duftbehälter, der von der Optik dem katholischen Weihwasserbecken am Eingang einer Kirche entspricht. Darüber platziert er einen Abguss seiner Nase, die verdeutlichen soll, dass man an der Flüssigkeit riechen darf. Die Flüssigkeit ist eine seiner Duftkreationen.

Ursprünglich arbeitete Gualtieri als Parfümeur namhafter Hersteller. Es störte ihn jedoch, dass dort die Vorgaben zu eng gefasst waren, in Klischees gefangen, und jede Kreativität erstickten. Deshalb beschloss er seine eigenen Parfüms zu entwickeln:

„Nasomatto, die verrückte Nase.“

Sein Ansatz liegt darin, Schönheit auch in assoziativ, negativ besetzten Dufterfahrungen aufzuzeigen. Dabei faszinieren ihn besonders die Ausdünstungen des menschlichen Körpers. Was wir im Alltag als negativ werten - z.B. Schweiß- und Fäkalgeruch - wird kunstvoll in angenehme Duftnoten eingebettet. Dabei soll der Interpretationsrahmen der Nutzer/in möglichst breit und offen gestaltet werden. Die Provokation oder auch Herausforderung durch die eigenwilligen Namen seiner Parfüm-Kreationen halten beim ersten Eindruck gezielte Klischees bereit, aus denen es sich zu lösen gilt.

Sehr gut lässt sich Gualtieris Persönlichkeit in der Filmdokumentation „The Nose - Searching for Blamage“, ergründen und daraus resultierend die unterschiedlichen Anteile in seinen „Nasomatto“ Düften erkennen: „Provokation, Umgestaltung in eine neue Anordnung/Wertigkeit, Schönheit, Kontrast und Offenheit.“

Auch wenn sich mein Artikel damit nicht befasst, so sei angemerkt, dass Gualtieri mit „Orto Parisi“ bereits eine zweite (thematische) Duftreihe geschaffen hat, in der er die Dufterfahrungen seiner Jugend - nicht minder spannend - zu vermitteln versucht.

Nachdem Gualtieri nun hoffentlich etwas transparenter geworden ist, lassen sich seine zwölf „Nasomatto“ Düfte in folgende Duftkategorien einordnen:

1. Die erste Duftkategorie taucht in die Unterwelt der Drogen - des Rausches – ab:

„Black Afgano“

Provokativ im Namen, da dieser direkt auf eine sehr starke, ölige Cannabis-Sorte Bezug nimmt. Der Duft startet entsprechend krautig, besitzt aber auch eine angenehme Frische. Doch zunehmend rückt die menschliche Komponente, Gualtieris fäkales Adlerholz, in den Fokus des Duftes. Dies führt dazu, dass die Droge als angenehm und weich wahrgenommen wird, welche kurzzeitig die menschliche Komponente in den Hintergrund rückt und sich kratzig, widerwillig damit verbindet. Sehr gewagt, denn genau in diesem Kontext, das „Ich“ zu betäuben, entsteht Sucht. Von der Assoziation losgelöst, ist der Duft eine erdige, krautige Wucht.

„China White“

Auch hier wieder Provokation und der Eintritt in die harte Drogenwelt, da China White eine Heroin-Sorte ist. Eine zerbrechliche Verführung wird suggeriert: Blumig, weich, clean. Der Dufteindruck wird nicht geerdet. Ihm fehlen gänzlich die dreckigen Anteile. Hier wird nicht über Gefahren oder den Abstieg philosophiert, sondern allein der „Trip“ zelebriert. In Bezug auf den Namen kann man dies schon als fragwürdige Verherrlichung werten. Doch Gualtieri gibt auch den Blick auf eine feminine, weiche, erotische Interpretation des Duftes frei, wenn man zum gewählten Namen keine Verbindung erstellt.

„Narcotic Venus“

Eine „Narcotic Venus“ ist eine Prostituierte, die sich als Lustobjekt für ihren Drogenkonsum zur Verfügung stellt. Diese Bezeichnung stellt nun im Gegensatz zu „China White“ bereits im Namen den Abstieg da, der sich aus der Suchtthematik ergibt. Tatsächlich wird der Duft von welken Blumen dominiert. Hier ist nichts leicht, sondern betäubend schwer. Im ersten Moment wird eine leicht abstoßende Wirkung erzeugt, die dann aber doch zu gefallen weiß: Fruchtig, süßlich, balsamisch, betörend, schwer. Vom gewählten Kontext gelöst nimmt man einen schweren, alten, gereiften Duft wahr, der z.B. auch sehr gut zum Genre „Gothic“ passt.

„Absinth“

Heute ist „Absinth“ ein Party-Drink, in dem das Nervengift Thujon fehlt. Doch der ursprüngliche Absinth, der verboten wurde, löste in der Kombination Thujon und Alkohol Halluzinationen bzw. Wahnvorstellungen aus. Ein sehr krautig, stechend, mentholig-bitterer Duft nimmt bei Gualtieri Bezug zum Original, welches seit 1923 nicht mehr hergestellt werden darf. Faszination und Ekel. Das krautige Gesamtbild wird derb von der Ausstrahlung einer nassen, schimmeligen Wand kontrastiert und führt zum für Gualtieri typischen Fäkal-Oud. Losgelöst von der namentlichen Vorgabe findet sich darin auch Interpretationsspielraum für die Natur; speziell Waldboden nach einem Regenguss.

2. In der zweiten Duftkategorie spielt Gualtieri mit dem männlichen Rollenbild:

„Duro“

Die Bezeichnung „Duro“ steht für „zäh“, „hart“. Der Duft startet stechend, mit Menthol, um dann in eine holzige Note überzugehen. In der Basis - wie bei vielen Nasomattos - steht das fäkale Oud, welches in sanftem Moschus ausklingt. Dabei gibt es wenig Interpretationsspielraum. Das ist die klischeehafte Wertvorstellung eines Männer-Bildes, der Erwartungshaltung: „Kerl.“ Entsprechend bedient Gualtieri sich auch an Duftstoffen klassischer Herrendüfte, die er ironisch überzeichnet. Alles eine Spur zu hart, um einem tatsächlichen Rollenbild entsprechen zu wollen.

„Pardon“

Im Kontrast zu Duro steht Pardon. Erneut möchte Gualtieri das Rollenbild des Mannes in den Fokus setzen. Wer nicht hart genug ist, der muss sich offensichtlich mit einem augenzwinkernden „Pardon“ dafür entschuldigen. Erneut bedienen bekannte Duftbausteine klassischer Herrendüften die Erwartungen, wobei diese in eine gourmandig-weiche Dominanz geführt werden. Erst in der Basis kommt es zur Erdung, durch Gualtieris Fäkal-Oud-Signatur, als sei dies der wahre Kern seiner Schöpfungen (was immer es bedeuten mag).

„Silver Musk“

Der fehlerlose Superheld, in dessen Aura sich das Unbesiegbare abzeichnet, soll in Silver Musk eingefangen werden. Zitrusfrüchte, eine metallische Struktur und Moschus können dies durchaus vermitteln. In Zusammenhang mit dem Namen formt sich der „Silver Surfer“ vor dem geistigen Auge: Liquides Metall. Unabhängig davon werden die Attribute „klar, sauber und unnahbar“ greifbar. Das Bild von einem Sommertag oder auch sauberer Wäsche kann ebenfalls entstehen.

3. In der dritten Duftkategorie widmet sich Gualtieri den Stimmungen:

„Baraonda“

In der italienischen Bezeichnung „Baraonda“ liegt das Augenmerk auf Tumult oder Ansturm. Dem Whisky-Auftakt, übergehend in Holznoten und erneut dem fäkalen Oud in der Basis, kann tatsächlich die Illusion eines „Saufgelages“ wahrgenommen werden. Doch es kann auch davon losgelöst die Beschaulichkeit eines Herbstabends, auf einem Ledersessel sitzend, ein gutes Buch lesend und einen Schluck Whisky nippend, entsprechen. Hier gelingt es Gualtieri, dass man seiner Vorgabe folgen kann oder sich ein ganz eigenes Bild zeichnet; sehr frei und offen.

„Hindu Grass“

Dieser Duft stellt eine Reminiszenz zur Hippie-Ära dar. Patchouli, von Beginn an mit menschlichen Ausdünstungen und einer grasigen Note untermalt, möchte den „Spirit“ der 60th vermitteln. Klischeehaft, ironisch und doch um Schönheit bemüht, bleibt es hier - in Bezug auf den Namen - trotzdem relativ blass. Nicht umsonst wurde die Produktion eingestellt, da sich die Grundbausteine in „Pardon“ wiederfinden lassen.

„Nudiflorum“

Der „Nacktblüher“ soll das Bedürfnis nach Nähe und Intimität nähren. Blumig, rauchig und krautig wird dieses Bild gezeichnet. An dieser Stelle muss ich bereits vor meinem Fazit meine persönliche Meinung einfließen lassen, da die vermeintliche Einzigartigkeit nur darin liegt, dass Gualtieri hier entweder mehr sehen will, als sein Duft darstellt, oder bewusst „Des Kaisers neue Kleider“ interpretiert. Der Duft ist gefällig und entspricht Amouage (Myth und Interlude), die ihre Düfte auch als „Nacktblüher“ verkaufen könnten: „Das reine, unverhohlene Verlangen, das all unsere Sinne durchtränkt ...“ (Zitat aus der Duftbeschreibung Gualtieris)

4. In der vierten (und letzten) Duftkategorie befinden sich seine beiden Experimentaldüfte:

„Blamage“

Diesem Duft wurde der hervorragende Dokumentarfilm: „The Nose - Searching for Blamage“, gewidmet. Die Idee liegt darin, dass ein Parfümeur eine Formel falsch anwendet und das Parfüm damit unbeabsichtigt verändert. Durch dieses Unglück entsteht jedoch eine hervorragende Neuschöpfung. Leider führte das Gualtieri doch sehr in Montale-Falle. Blamage startet mit einer Haarspraynote, die eine fruchtig-milchige Herznote mit Oud-Basis erhält.

„Fantomas“

Eigentlich sollte Blamage den Schlusspunkt der Nasomatto-Reihe bilden. Doch nun, 2020, gesellt sich „Fantomas“ hinzu. Dieser Duft enthält nun wirklich alle Zutaten, die einen Alessandro Gualtieri ausmachen: Provokant, mutig und einen klaren Bezug zum Namen = Melone, rauchig, dunstig auf Vinyl/PVC. In der Basis seine abschließende Signatur.

Nun ist Gualtieris dreckiges Dutzend voll und ich komme zu (m)einem Fazit:

Gualtieri ist ein Künstler. Es macht Spaß ihm dabei zuzusehen, da er die Ausdruckskraft Dalis gepaart mit kindlicher Neugier vereint. Er lebt Kunst, muss sich nicht darstellen, macht sich rar und möchte seine Parfüms sprechen lassen. Dies gelingt ihm jedoch nicht immer.

Ähnlich der eingangs beschriebenen „Parfümfachverkäuferin“ wird auch Gualtieri von Klischees gelenkt, von denen er sich offenbar selbst nicht lösen kann. Gerade in seiner Interpretation der zweiten Duftkategorie - der Interpretation der Rolle des Mannes - erfüllt er nur gesellschaftliche Vorgaben, kann die ihm wichtige Neuordnung nicht vollziehen (am ehesten noch mit "Duro"). Vielleicht hätte er hier schon den Mut von „Fantomas“ aufbringen müssen und damit mehr hinterfragen und überzeichnen müssen.

Ebenfalls fällt er besonders in seiner dritten Duftkategorie - den Stimmungen - in die „Nachahmungsfalle“. "Baraonda" unterscheidet sich kaum von der Handschrift eines Mark Buxton. "Nudiflorum"könnte von Amouage sein und selbst sein Experimentalduft "Blamage" könnte in einer „Blindverkostung“ kaum jemand von Montales Aoud-Reihe unterscheiden. Da rettet Gualtieri auch nicht seine fäkal-schwitzigen Andeutungen.

„Hindu Grass“ stellt den Tiefpunkt seiner künstlerischen Entwicklung dar. Die Grundidee nahm er jedoch offensichtlich in eine schönere Kreation mit und schuf damit den gefälligen „Pardon“.

Wenn Gualtieri jedoch in den Bereich des Drogenmilieus vorstößt, scheint ihm sein eigener Anspruch zu gelingen: Provokation, Umgestaltung in eine neue Anordnung/Wertigkeit, Schönheit, Kontrast und Offenheit.

Erst 2020, mit „Fantomas“, zeigt Gualtieri allerdings seine ganze künstlerische Größe, löst sich von allen Erwartungen und gestaltet einen Duft, der Maßstäbe setzt. (Bei Interesse und zur Vertiefung empfehle ich meinen Kommentar „Grauenhaft genial“ zu "Fantomas" zu lesen).

Abschließend muss man unbedingt ins Gedächtnis rufen, dass es sich bei Parfüms immer um eine Gebrauchskunst handelt und Gualtieri damit sensibel abwägen muss, wie weit sein künstlerischer Ausdruck gehen darf, ob der Duft noch tragbar ist und am Ende Käufer/innen findet. Daran dürfte sich auch so schnell nichts ändern.

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