Harielle
28.04.2020 - 06:03 Uhr
19
Top Rezension
8
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft

Gib mal 'nen Kuss auf Lydia

Eine Ablenkung vom wahren Leben, eine Flucht aus der Realität, das ist es, was sich Verleger Ernst Rowohlt von Schriftsteller Kurt Tucholsky in einem fiktiven Briefwechsel für seine Leser wünschte. Tucholsky erfüllte den Wunsch des Verlegers nach “einen leichten, sommerlichen Roman, vielleicht einer Liebesgeschichte” und schrieb einen seiner grössten Publikumserfolge: “Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte”. Als Zaungäste reisen wir mit Ich-Erzähler Peter, genannt Daddy und seiner Freundin Lydia, genannt Prinzessin, nach Südschweden. Die unbeschwerte Sommerfrische gespickt mit Neckereien – teilweise auf Missingsch* - wird durch interessante Besucher, nämlich Freund Karlchen und die erotisch anziehende Freundin Billie bereichert. Einen Riss bekommt die heitere Idylle als das Paar der kleinen Ada begegnet, die in einem nahe liegenden Kinderheim lebt und sich den Repressalien der Heimleiterin ausgesetzt sieht. Lydia und Peter nehmen sich des Kindes an und organisieren, dass es zu seiner (bisher ahnungslosen) Mutter in die Schweiz zurück kehren kann.

Kaum ein Duft verkörpert das entspannte Nichtstun in “Schloss Gripsholm” für mich so sehr wie “Lindenblüte” von Harry Lehmann. Die (vermeintliche) Einfachheit dieses Duftes gepaart mit der Ästhetik und Stimmung der Weimarer Zeit, die selbst in der lockeren und sommerlichen Atmosphäre von Tucholskys Erzählung mitschwingt, bilden für mich eine stimmige Einheit. Dass sowohl die Marke Harry Lehmann als auch die beiden Hauptfiguren Peter und Lydia aus Berlin stammen (Lydia ursprünglich aus Rostock, wie wir schnell erfahren - Stichwort “Missingsch”), wo zudem die legendäre Straße “Unter den Linden” beheimatet ist, mag diese Assoziationskette bei mir verstärken.

Wie riecht “Lindenblüte” von Harry Lehmann?

Nun, ganz einfach, nach Lindenblüte – das hättet ihr jetzt nicht vermutet, oder? Dies könnte in der Tat ein sehr kurzer Text werden, da ich diesem wunderbaren authentischen monofloralen Duft verbal wenig hinzuzufügen habe (wobei der Begriff monofloral mit Vorsicht zu genießen ist).

Aber ich versuche mal, meine Duft-Eindrücke mit Tucholskys Hilfe einzufangen:
Satt-grünes Blätterrauschen bestimmt den Auftakt des Duftes. Ich sehe vor meinem inneren Auge Lydia und Peter an einem noch frischen Sommermorgen eine Allee entlang radeln, es liegt noch Tau auf der Wiese und Lydia hat Gänsehaut auf den nackten Beinen.

Umgeben vom herrlich blumigen leicht süßen Duft der Lindenblüten machen die beiden am späten Vormittag eine Pause und liegen im Gras. Sie unterhalten sich und necken einander. Bienen summen friedlich, nicht weit entfernt haben Bauern Heu zum trocknen aufgetürmt, dessen leichter Duft sich mit dem der Lindenblüten mischt.

Lydia hat ihre Strickjacke ausgezogen und beginnt mit dem an einem Grashalm kauenden “Daddy” die im Buch allgegenwärtigen übermütigen Sprachpiele um Namen und Identitäten, die der Erzähler liebevoll ironisch als “Übereinstimmung in den Grundfragen des Daseins” beschreibt ohne ihnen eine geheimnisvolle, tiefere Bedeutung beizumessen. Dies entspricht dem humorvoll-witzigen Grundtenor der Erzählung. Die Harmonie und Leichtigkeit wird durch das obligatorische “Gib mal nen Kuss auf Lydia” apostrophiert.

Auf dem Heimweg ins Schloss Gripsholm steht die Sonne hoch am Himmel, die Luft ist warm und fast ein wenig schwül. Der leichte Sommerwind weht Blütenstaub und zarte honigsüsse Aromen hinüber. Die “Prinzessin” und ihr “Daddy” fühlen sich angenehm müde von Sonne, Luft - und Liebe.

Ich hoffe, ich konnte euch mit dieser kleinen Skizze einen brauchbaren Eindruck dieses wunderbaren Lindenblütenduftes vermitteln - und euch vielleicht ein wenig Lust auf Tucholsky-Lektüre machen.

Natürlich wurde diskutiert, inwieweit Kurt Tucholskys Erzählung autobiographische Züge aufweist, was dieser übrigens bestritt. Die Widmung „Für IA 47 407“ bezog sich jedenfalls wenig diskret auf die Journalistin Lisa Matthias (deren Autokennzeichen entsprechend lautete) mit der er 1927 bis 1930 eine Beziehung hatte und in Schweden nachweislich Urlaub machte. 1929 emigrierte Kurt Tucholsky nach Schweden, wo er bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1935 lebte.

Jedenfalls ist es schön, sich bei Bedarf ein wenig Gripsholm-Feeling aus dem Flakon zu gönnen um die “Seele baumeln" lassen zu können - und diese Romanze muss im Gegensatz zu der von Lydia und Kurt auch nicht nach einem Sommer enden. Ihre gemeinsame Zeit in Schweden ist begrenzt obgleich sie einen kurzen Moment sogar mit dem Gedanken spielen dort zu bleiben, doch sie sehen ein: „Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles — auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muss man teilnehmen.“

*"Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher Hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück. Lydia stammt aus Rostock, und sie beherrscht dieses Idiom in der Vollendung."
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