Wild Roses 2016

Helena1411
08.08.2019 - 19:10 Uhr
17
9
Flakon
6
Sillage
4
Haltbarkeit
8.5
Duft

Die Überraschung

Sie hatte etwas anderes erwartet.
Raffinesse. Romantik. Rosen.
Sie hatte sich darauf eingestellt und sich wider der Ungewissheit, ob es überhaupt in der Form, wie ihre Hoffnung es sie wünschen ließ, geschehen werde, insgeheim schon darauf gefreut.
Es hätten ja nicht zwingend rote Rosen sein müssen, nein, ganz und gar nicht. Auch Rosen mit Blütenblättern in einem zarten Rosé-Ton oder Creme-weiß hätten sie verzücken mögen. Selbst gelbe, die sie am wenigsten von allen Farben an Rosen mochte, hätten ihr ein Lächeln auf die Lippen gezaubert und ihr Herz ein wenig schneller schlagen lassen.

Aber nun stand sie in ihrem Morgenmantel, wider besseren Wissens mit dem schalen Gefühl der Enttäuschung, vor dem Frühstückstisch, immerhin eingedeckt, jedoch ohne Rosen, ohne jedwede Form von Blumen. Auch keine Karte oder ein schnell geschriebener Zweizeiler auf einem Zettel. Nichts dergleichen.
Natürlich war er schon außer Haus, sie hatte gewusst, dass er früh losfahren musste aufgrund seiner Arbeit und der wichtigen Termine. Sie waren immer wichtig, die Termine. Natürlich.

Ihr verbitterter Blick streifte über den Frühstückstisch. Eine Grapefruit, von ihm frisch aufgeschnitten, lag auf dem Teller. Daneben stand ein Glas mit offensichtlich frisch gepresstem Zitronensaft, der nur darauf wartete, mit heißem Wasser aufgegossen zu werden.
Er hatte also doch zwischen all seinen Terminen registriert, dass sie sich eine Erkältung zugezogen hatte und bereits seit zwei Tagen vollkommen verschnupft war. Eine heiße Zitrone, sagte sie zu ihm sonst, wenn er erkältet war, wirke wahre Wunder. Das hatte er sich also doch eingeprägt.
Und dass sie gerne Grapefruit zum Frühstück aß, es sich aber selten gönnte, schien ihm auch nicht entgangen zu sein, und das, obwohl es in der Tat eine absolute Seltenheit war.
Sie schnupperte, das waren doch nicht die Grapefruit und die Zitrone, was sie da so vordergründig roch... Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass es ein spritziger Limettengeruch war, der ebenfalls dem vorbereiteten Glas für die heiße Zitrone entströmte. Verwundert betrachtete sie das Glas, in dem sich zusätzlich zu der Zitrone die zweite Zitrusfrucht befand, die sie vom Geschmack her von jeher schon liebte. In jeder Bonbon- und Fruchtgummimischung sortierte sie diejenigen mit Limettengeschmack vorab aus, um sie sich für den Schluss aufzuheben als krönenden Geschmackshöhepunkt. Das hatte er tatsächlich für sich gespeichert, wie sie jetzt mit ungläubigem Staunen sah.

Sie frühstückte nachdenklich, ohne Rosen, aber mit ihren liebsten Zitrusfrüchten, von ihm schon bereitgestellt und vorbereitet. Für sie. Vor seinen Terminen.

Nach der Dusche war sie bereit für den Tag, für die Arbeit. Mit dem Autoschlüssel in der Hand wäre sie an der Tür beinahe über den Thermobecher gestolpert, der einsam, aber demonstrativ mittig im Flur stand. Erstaunt hob sie den Becher an, drehte den Deckel auf und konnte den feinen Duft weißen Tees wahrnehmen, der ihr unaufdringlich entgegenströmte, sanft, ihr Lieblingtee, eine spezielle Sorte weißen Tees, Yin Zhan. Ein kleiner Schluck des heißen Getränks zeigte ihr, dass es sich um den zweiten Aufguss handelte, den sie immer trank, und nicht um den ersten, der für sie zu viel Bitter- und Gerbstoffe enthielt. Er hatte sich demnach die Mühe gemacht, zwei Aufgüsse zu machen. Für sie. Vor seinen Terminen.

Lächelnd schraubte sie den Deckel des Bechers wieder zu, verließ das Haus und eilte zu ihrem Auto. Erst auf den zweiten Blick sah sie die Rose unter dem Scheibenwischer. Eine einzelne, langstielige, dunkelrote Rose mit einer üppigen Blüte. Vorsichtig löste sie die Rose von dem Scheibenwischer und roch daran. Ein sanfter Rosenduft wurde von der Blüte freigegeben, vollmundig und dunkelrot wie die Rose selbst. Kann etwas dunkelrot riechen, überlegte sie schmunzelnd. Und noch während sie an der Rose riechend nachdachte und zeitgleich die Autotür öffnen wollte, nahm sie das kleine Samtsäckchen wahr, das an dem Griff der Autotür befestigt war. Darin fand sie eine zart nach Rosen duftende Handcreme und einen Zettel von ihm geschrieben, erkennbar an seinen scheinbar flüchtig dahingeworfenen Buchstaben:

„Falls Du Dich an der Rose stichst, damit Deine wunderschönen Hände so wunderschön bleiben, wie sie sind. Alles Liebe zum Hochzeitstag!“

Das hatte er noch schnell auf einem der vielen Notizzettel aus seiner Aktentasche notiert.
Für sie. Vor seinen Terminen.

Sie hatte etwas ganz anderes erwartet. Und etwas um so vieles Schöneres bekommen.
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