13. Geschlechterstereotype, -bilder, -entwürfe

In vorangegangenen Einträgen habe ich mich mit der Zeichenhaftigkeit, der Zeichenfunktion erster (beim Schaffen) und zweiter Instanz (beim Tragen) beschäftigt und kam schon mehrmals auf biologisch-natürliche Voraussetzungen für Duftwirkung und -wahrnehmung zu sprechen. Sehr logisch führt das zielgerade zu der Frage der Inszenierung, Gültigkeit und Bedeutung von Männlichkeit und Weiblichkeit bei Duft.

Dass Sex/Gender ein Thema ist, mit dem ich schon einiges zu tun hatte, inhaltlich und (logischerweise) persönlich, mag man schon gemerkt haben daran, dass ich konsequent sprachlich geschlechtergerecht formuliere und bisweilen sehr bissig auf Sexismus reagiere. Im Folgenden versuche ich nicht, das komplette (sehr spannende) Gebiet der Genderforschung, den praktische Einsatz von Gendermainstreamingfakten oder die Theorien von Judith Butler zu erklären *g*, sondern der Frage nachzugehen, welches Gewicht die natürliche, psychologische und kulturelle Geschlechterdifferenz für die Parfumerie hat.

Zunächst gibt es da eine Summe von natürlichen Tatsachen, die evolutionär Sinn machen, da ein großer Teil unseres Riechvermögens sich analog zu Fortpflanzungsvorteilen entwickelt hat. Männerschweiß riecht für Frauen anders als für Männer, so wie jedes Körpersekret auf das jeweils andere Geschlecht eine - teilweise verblüffend große - Wirkung hat.

Dann gibt es eine ganze Reihe Gerüche, die nicht direkt biologisch unterschiedlich wirken (keine oder geringe botenstoffartige Potenz haben), aber sehr wohl Psychomodule aktivieren, die sich evolutionär unterschiedlich bei den Geschlechtern entwickelt haben. Jugendlichkeit (und mit ihr Gebärfähigkeit) ist zum Beispiel ein immens wichtiger Baustein weiblich-sexueller Attraktivität, während ihm beim männlichen Muster keine solche Wichtigkeit zukommt. Die Demonstration von Aggression, Kampfbereitschaft und Wehrhaftigkeit ist dagegen ein Aspekt, der im typischen Werbungsprofil von Y-Chromosomträgern seinen Platz hat und zu vernachlässigen ist im weiblichen Profil. Frische Düfte, frühlingshafte und "gesund" wirkende Düfte können daher in Parfumkonstruktionen einer "weiblichen" Attraktivität dienen, während würzig, scharfkantig und sportlich Wirkendes eine bestimmte Funktion in "männlicher" Selbstdarstellung erfüllen kann. Beispiele dieser Art, also wo Düfte solche evolutionär entstandenen Psychomodule ansprechen, gibt es zuhauf.  

Jetzt ist es aber nicht so, dass wir in einer Welt leben, die ausschließlich biologisch bestimmt wäre und nur auf Weitergabe und Erhalt unserer Gene fixiert leben würden. Wir sind, egal wie groß unser natürlicher Teil ist, nicht Tiere, die in einer rundum geschlossen gültigen Natürlichkeit leben, sonden Menschen, die in Kultur leben. Ja, freilich, unsere Kultur ist vielfach durch Natur bestimmt, begrenzt und determiniert, aber sie ist seit einigen tausend Jahren Milleu und Entwicklungsraum und hat Fakten geschaffen, die weitab von Natürlichkeit gelten ... und schafft weiterhin immer mehr neue Fakten.

So unterliegen wir nicht einer Zwangsheterosexualität. Egal, welche genetischen Voraussetzungen es für Homosexualität, Bisexualität oder Sexlosigkeit geben mag oder nicht, wir leben definitiv in einem kulturellen Raum, der Lebensentwürfe jenseits genetischer Reproduktion zulässt. Auch Heterosexualität hat immer weniger mit Ausrichtung auf Fortpflanzung zu tun. Ein Frauenleben ist nicht mehr durch den Besitz einer funktionierenden Gebärmutter vorbestimmt und Mutterschaft wie Vaterschaft oder eben Nichtfortpflanzung bedeuten für den einzelnen Lebensverlauf nichts zwangsläufig Entscheidendes. Unsere Gene und die dazugehörigen Psychomodule sind vorhanden, das ist einfach so. Aber ihre Bedeutung für unser Leben ist sehr offen und unterliegt zu einem sehr, sehr weiten Teil einer kulturellen Bestimmung.

Wie ist das aber mit Duft? Wenn Geruch Biologie und Psychomodule antriggert, gibt es da doch eine Wirkung, die gültig ist bevor eine kulturelle Bedeutung überhaupt greifen kann. Männlicher Schweiß wirkt auf eine Doppel-X-Chromosomenträgerin, egal, ob sie Mutter, Lesbe, oder beides ist. Ein Mann findet Jugendlichkeit attraktiv, egal, ob er Frauen, Männer, beide oder niemanden liebt, egal, ob er auf dem "Markt" ist oder seit 50 Jahren eine monogame Beziehung hat, ob er zeugungsfähig oder überhaupt -interessiert ist, usw.

Wenn Duft zum Gestalten eines attraktiven Selbstbildes benutzt wird, greifen wir auf diese natürlichen Komponenten zurück. Diese Selbstbilder sind per se auch Geschlechterbilder. Müsste es dann nicht logischerweise ausschließlich klar abgegrenzte Männer- und Frauendüfte geben? Was soll dieses "unisex"-Ding dann?

Der Versuch eines Antwortens ist eine Verquickung natürlicher und kultürlicher Ansätze: Der Mensch hat sich deshalb zum evolutionären Superstar entwickelt, weil er in der Lage war, das Neue und Andere zu erschließen (also am Ende Kultur zu entwickeln). Unsere Biologie schafft alle Voraussetzungen, sie hinter sich zu lassen. Wir beschreiten Sonderwege, erfinden und improvisieren, weil unser Bauplan genau das möglich macht. Ja, wir reagieren olfaktorisch programmiert. Ziemlich genauso wie ein brünftiger Moschushirsch oder eine rollige Zibetkatze. Aber was uns von Hirsch und Katze unterscheidet: Wir empfinden Reiz am Anderen. Wir sind nicht nur ausschließlich in der Lage, auf das eine und nur das eine zu reagieren, während wir sämtliche Alternativen gar nicht wahrnehmen und im nicht Hirn verarbeiten. Nein... wir sind getrieben von einer wunderbaren Neugier. Alles was anders und außergewöhnlich ist, übt einen großen Reiz auf uns aus. Die Fähigkeit der Entdeckung und des Experiments sind uns natürlich in die DNA eingeschrieben und ermöglichen Entwicklung.

Und wir leben in der verdammt weit entwickelten Kultur des 21. Jahrhunderts. Unsere biographischen Möglichkeiten sind unglaublich ausdifferenziert. Individualität und Pluralismus sind die heiligen hohen Werte unserer Definition von Menschlichkeit. Selbstentfaltung ist das Non plus Ultra des Menschenlebens. Klar, dass da beschränkte, einfache Muster immer weniger attraktiv sind. Klar, dass wir uns da von simplen Geschlechterideen immer weiter weg bewegen zu immer größerer Freiheit. Auch mit unseren olfaktorischen Interessen und Vorlieben.

Die Möglichkeiten mit einerm Duft zu zeigen: "Ich bin anders", "Ich bin schlau.", "Ich bin witzig.", "Ich bin überraschend.", "Ich bin vielschichtig.", "Ich bin ein freier Mensch.", "Ich bin spannend.", usw sind inzwischen viel aussagekräftiger als "Ich bin fruchtbar." Selbstbestimmung und eigene Entscheidung für die Züge des eigenen Bildes geben den Ausschlag beim Umgang mit biologischen Voraussetzungen. Diese sind da und sie sind zweifelsohne gültig. Aber wie sie gelten, welche Bedeutung sie haben und wie sie wozu benutzt werden, das ist relativ frei. Ein paar Grenzen werden wir nicht grundlegend verändern können, brünftiger Hirsch und rollige Katze sind noch in uns und werden das immer sein, aber innerhalb dieser Grenzen ist ein weites, sehr weites Feld offen.

Unisex wächst und wird weiter wachsen.

Eines Tages werden Parfumonasen erheitert darüber sprechen, dass es mal "Herren-" und "Damenparfum" gab.

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So frei, wie NEC mit sexueller Konotation von Düften und stereotypen Auffassungen von "männlich" oder "weiblich" umgeht, ist das nicht nur witzig, sondern auch ganz im Sinne dieser Selbstbestimmung im Bewusstsein natürlicher Grundbedingungen. Als er hier User war, wurde das ganz oft missverstanden. Das war wiederum aber auch witzig. *g*

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