4. Moderne, Teil I

Wenn ich die Parfumerie als Kunstform begreife, stellt sich schnell die Frage nach einer Parfumkunstgeschichte.
Vieles, sehr vieles, was (unter anderem hier auf Parfumo) zusammengetragen wird an historischen Schnipseln, bemerkenswerten Entwicklungen und Anekdoten ergibt zusammen Schritte einer Geschichtschreibung für diese Kunst.
Ganz in diesem Sinne will ich im Folgenden einer eher groben, generellen, aber m. E. entscheidend wichtigen historiographischen Frage nachgehen: Der nach der Moderne.
Ich werde im heutigen 1. Teil eher allgemein den Begriff "Moderne" umreißen und dann in einem zweiten die Moderne der Parfumerie zu betrachten versuchen.

Moderne.
Die Moderne fassen kann man nur, wenn man sich die Vor-Moderne anschaut:
Durch das 19. JH ruckte und zuckte es. Es wurden bahnbrechende naturwissenschaftliche Fortschritte erzielt, Bakterien, Viren, Atome und lauter so unsichtbares Kleinzeugs rückten in die Wirklichkeit, Fabrikationsmethoden wurden erdacht und passende Fabriken gebaut, Eisenbahn, Photographie, Glühbirne und, und, und wurden erfunden: Das Leben wurde schneller.
Diese Beschleunigung führte zu Veränderung: Macht und Herrschaft mussten hinterfragt und neu entworfen werden, die Städte wuchsen und der bürgerliche Lebensentwurf wurde viel ausdifferenzierter und umfangreicher. Dazu kamen internationale Reibungen und kolonialer Machtkampf.
Ende des 19. JH dann, kochte die Zeit, die Jahrzehnte lang gesiedet hatte, gewissermaßen über: Es passierte unglaublich viel in unglaublich kurzer Zeit, gleichzeitig, neben, über, unter einander, enorme Kreativität und Aggression entluden sich.
Energie. Hochpotente Energie - und davon sehr viel.
Die Welt, das Menschenbild, die Wissenschaft, der Glaube, die Technik, usw. veränderten sich.
Diesen Veränderungen entsprechen die Bewegungen der Kunst.
In schneller Abfolge wurden Kunstlehren produziert und angewandt, die jeweils (vermeintlich) grundlegend waren. Es ist die Zeit der Ismen.
In der Malerei beginnt die sogenannte "klassische Moderne" mit dem Impressionismus. Nähe zur Natur bedeutet eigentlich eine Absage an den Naturalismus. Als Künstlerinnen und Künstler dies erkennen, führt die Befreiung, die in dieser simplen Wahrheit liegt, zu einem enormen Schaffen. Auf den ersten Ismus folgen sehr viele andere, jedes Mal mit befreienden revolutionären Erkenntnissen, jedes Mal eine weitere relative Annäherung an das Wesenhafte bringend (Das Wesen des Menschen und das Wesen der Kunst).
Ich möchte jetzt nicht alle Bewegungen der Moderne durchbuchstabieren, Ihr kennt zur Genüge die vielen Ismen der Malerei, Musik, Literatur im 20. JH.
Gleichzeitig mit dieser geistigen Agilität profitiert die Kunst von einer enormen technischen. Auf allen Gebieten, wird erfunden und entwickelt, was das Zeug hält: Der Mensch fliegt, dabei wirft er moderne Bomben oder dreht Filme.
Auch ganz praktische Neuerungen kommen den unterschiedlichen Kunstformen zugute: Anderes Papier, andere Farben, andere Werkzeuge, andere Musikinstrumente, Aufzeichnungsgeräte, Schreibmaschinen und vor allem andere Medien zur Kommunikation mit einer anderen Öffentlichkeit.

Die ungeheure Beschleunigung der Moderne bringt nicht nur Fortschritt und positive Entwicklung, sie bringt auch eine Beschneidung der Individualität zu Gunsten der Masse, macht Faschismus und zwei große Kriege möglich. Auch der Nationalsozialismus war durch und durch modern.
Durch die folgende vernichtende Erschütterung und Ernüchterung Mitte des 20. JH, beginnt man den vielen Ismem, die sich abwechseln und überschlagen, zu misstrauen. Wenn die eine Lehre die Wahrheit enthält, aber von einer anderen Lehre abgelöst wird, die auch die Wahrheit enthält, dann hat das Auswirkungen auf den Wahrheitsbegriff: Entweder, es gibt keine eine Wahrheit oder keine Lehre kann die Wahrheit enthalten... oder beides...
eine Nach-Moderne, Postmoderne entsteht. 

Gut.
In vorangegangenen Blogeinträgen sind folgende Schritte (hoffentlich nachvollziehbar gegangen worden):
-        Parfumerie ist eine Kunstform.
-        Es existiert keine bündig formulierte Ästhetik.
-        Kunst muss sich nicht für die Inanspruchnahme des Kunstbegriffs rechtfertigen, sehr wohl aber den Fragen nach Qualität, Innovation, Notwendigkeit und Wirksamkeit stellen. Wie "gut" sie ist, wird nicht bereits durch die Zuschreibung "Kunst" entschieden.
-        Kunst unterliegt nicht dem Zwang zur Schönheitsproduktion, es gibt aber natürliche Rahmenbedingungen, die die Parfumerie auf ein begrenztes Spektrum von Ausdrucksmittel beschränkt.
Jetzt kommt hinzu:
-       Genau wie keine Ästhetik, gibt es keine bündig formulierte Kunstgeschichte der Parfumerie. 
-       Die Moderne hat das Leben und die Kunst entscheidend verändert. Was sind die Auswirkungen der Moderne auf die Kunst der Parfumerie?

Es sind umwälzende, fundamentale Veränderungen. Die moderne Parfumerie ist überhaupt erst die, für die ich ohne Einschränkung den Kunstbegriff verwenden kann. Technisch und theoretisch ereigneten sich nicht nur Bewegungen, sondern Erdbeben, -rutsche und -verschiebungen.
Aber das muss warten bis zum 2. Teil des Moderne-Blog-Eintrags.

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