Colonia Futura 2020

Creepwood
18.09.2022 - 14:17 Uhr
17
Sehr hilfreiche Rezension
8
Preis
8
Flakon
6
Sillage
3
Haltbarkeit
9.5
Duft

Zukunftsträchtige Stilübung, oder: Opa roch gut, verdammt nochmal!

1947 erschienen Raymond Queneaus "Exercices de style" – zu Deutsch "Stilübungen", jenes legendäre Buch, in dem Queneau eine banale Alltagsbegebenheit in immer neuen stilistischen Gestalten über hundert Mal erzählt: Ein junger Mann mit seltsamem Hut fährt Bus, hat dabei Streit mit einem älteren Herrn, den er beschuldigt, auf seinen Fuss zu stehen, und unterhält sich danach vor der Gare Saint-Lazare mit einem Freund, der ihm rät, seinen Mantelknopf höher ansetzen zu lassen. Aus diesem langweiligen Handlungsgerüst – der Story – destilliert Queneau dutzende brillante Plots, also jeweils in ihrer kausalen Anordnung und stilistischen Ausgestaltung mehr oder weniger stark variierte Versionen der Busfahrt und des Gesprächs vor dem Bahnhof. Von der pathetischen Mikro-Novelle über den komischen Einakter und das Sonett bis hin zur Beschimpfungskaskade ist alles dabei. Aber wohlgemerkt: Die "Stilübungen" sind keineswegs nur eine masturbatorische postmoderne Spielerei. Das dialektische Spannungsverhältnis zwischen selbstauferlegter Regel und subversivem Regelbruch bzw. kreativer Regelerfindung hat auch einen kritischen, einen brisanten, ja politischen Impetus: Wer so leichthändig mit Normen und Regeln spielt, gerät vielleicht nicht zu Unrecht in den Verdacht, die Sinnhaftigkeit von Normen und Regeln generell in Frage stellen zu wollen. Gerade diese vermeintlich nur minimal 'kreativen' Texte sind also in Wahrheit anregender, witziger und kritischer als so mancher dicke politische Thesenroman.

An die "Stilübungen" von Queneau musste ich denken, als ich Colonia Futura erstmals ausprobierte. Ich hatte lange damit gezögert, denn die Rezeption dieses noch relativ neuen Dufts fiel, gelinde gesagt, lauwarm aus: Hier auf Parfumo ist man noch vergleichsweise grosszügig, aber es gibt doch einige harsche Statements (Tenor: altbacken und langweilig); auf Fragrantica finden sich wenige Fans, aber auch Stimmen, die hier den Lackdunst aus einer alten Violine riechen wollen, und auf Basenotes war die erste Reaktion geradezu vernichtend ("an insult to the original" usw.). Mittlerweile - zwei Jahre nach dem Release - hat sich der Staub gelegt und man liest zuweilen mildere, sogar genuin positive Rezensionen. Ich finde es aber immer noch kurios, dass ein so einfacher, subtiler, ja vielleicht auch etwas banaler Duft derart harsche Reaktionen auslösen konnte. Erst über die Assoziation mit Queneaus Texten wurde das für mich nachvollziehbar: Wenn wir, wie der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt, in einer Kultur der "Singularitäten" leben, in einer Kultur, die das (vermeintlich) Besondere, Einzigartige, Abseitige usw. fetischisiert und wenig übrig hat für das Derivative, Standardisierte, Altbekannte und Traditionelle - wenn dem so ist, und ich glaube, dass er durchaus recht hat, dann ist ein Duft, der als reine "Stilübung" daherkommt, eben durchaus eine Provokation. Und dann heisst er auch noch "Futura"! Lächerlich! Verarsche pur! Diese Zitronen-Lavendel-Vetiver-Komposition riecht doch nach Opa, ist das genaue Gegenteil von "Zukunft"!

Aber eine derart auf das 'Singuläre' geeichte Haltung verkennt die Qualitäten von Colonia Futura. Manchmal manifestiert sich der kreative Funke nicht in der expressionistischen Geste des Tabubruchs, des Hinwegfegens der Traditionen und der Behauptung einer neuartigen, singulären Inspiriertheit – sondern in der gemessenen, traditionsbewussten, behutsamen und handwerklich meisterhaft gestalteten Variation eines schon bekannten Themas. Und genau so eine Variation, so eine "Stilübung", ist Colonia Futura. Dieser Duft erwuchs aus der simplen Einsicht, dass es keine Schande ist, wie Opa zu riechen, denn Opa roch super! Und eben: Dass Genialität auch oder gerade unter der Bedingung einer selbstgewählten Einschränkung, einer "contrainte" möglich ist, davon zeugen nicht nur die literarischen Experimente eines Raymond Queneau. Auch dieser Duft, für den Acqua di Parma grössten Wert auf Nachhaltigkeit, auf die Verwendung natürlicher Ingredienzen legte, ist ein Beleg dafür. Und so ist dann auch der Name zu lesen: Nicht nur (aber sicherlich auch!) als ironischer Kommentar zu unseren klischeehaften Vorstellungen dessen, was 'Originalität' und differenzästhetische Qualität ausmacht, sondern vor allem als Bekenntnis zur 'Zukunft' in einem ganz manifesten und konkreten Sinn, nämlich zu einem auch in einigen Jahrzehnten noch irgendwie bewohnbaren Planeten - und diese Zukunft ist nur zu haben, wenn wir grundlegende Parameter unserer Lebens- und Wirtschaftsweise neu austarieren, also etwa unsere Präferenz für das immer krassere, neuere und andersartigere 'Singuläre' zu hinterfragen beginnen.

Mit diesem Parfum, das den zeitgenössischen Duschgelpräferenzen des Massenmarkts ebenso wenig entspricht wie den immer verschrobeneren Prädilektionen der 'Nische', ist Acqua di Parma eine solche zukunftsgerichtete Rückbesinnung auf eine überzeugende Grundformel hervorragend gelungen. Hier ist alles, was ein klassisches Eau de Cologne ausmacht, ja, aber eben noch mehr, denn sonst könnte man sich ja wirklich einfach das Original-Colonia aufsprühen. "Futura" beginnt viel härter, viel brutaler und männlicher als das Original, mit einer ziemlich harschen, sauren Zitrone und ersten scharfen grünen Noten. Das Original von 1916 gemahnt im Opening an Queneaus Stilübung Nummer 9, die "Liebeserklärung": "Ah, Mittag! Die schönste Tageszeit. Und welcher Bus biegt um die Ecke? Der S, meine Lieblingslinie." Trägt man Futura auf, denkt man im ersten Moment eher an die Variante "Beleidigend": "Nach einem saumäßigen Warten unter einer schändlichen Sonne stieg ich endlich in einen unsauberen Autobus, in dem eine Bande Arschlöcher zusammengepfercht stand."

Nach wenigen Minuten aber legt sich der wilde erste Eindruck und der Duft wirkt fortan wunderbar ausbalanciert. Diese Harmonie macht ihn aus; an ihr merkt man, dass hier echte Könner am Werk waren, die mit der klassischen Cologne-Formel auch deshalb so freimütig experimentieren dürfen, weil sie sie ja in gewissem Sinne erfunden haben: "Futura" ist nie so zitrisch-sauer wie etwa Tom Fords Costa Azzurra Parfum, riecht nie so krautig nach Isländisch Moos wie Cipresso Toscana (ebenfalls aus dem Hause ADP), veranstaltet keine sommerliche Teezeremonie wie Louis Vuittons "Imagination", verzichtet auf schmeichelnde Sonnenmilchsüssigkeit à la "Soleil Blanc" – sondern findet im Drydown zu einem wunderbar simplen, punktgenau gestalteten Gleichgewicht zwischen Salbei, Vetiver und Lavendel. (BTW: Die erwähnten Düfte besitze und liebe ich alle!).

Das ist einfach wohltuend, schön, angenehm, auch wenn der Spass nicht lange anhält. Who cares, ist halt ein Cologne, und da der aktuelle Markt wenig Freude an "Stilübungen" hat und auf die grosse Hallo-hier-bin-ich-Geste abfährt, gibt's Futura in der grossen 180er-Buddel auch schon zu stark heruntergesetzten Preisen. Die Zukunft ist hier - möge sie uns lange erhalten bleiben.
8 Antworten