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Sehr hilfreiche Rezension
mit jedem Verlassen der Komfortzone vergrößert sie sich
Frage mich, warum ich das brauche, die Wiederholung dieser Dufterfahrung, die bei mir nicht im Verdacht stand, eine olfaktorische Genuss-Veranstaltung zu sein.
Die Antwort steht (möglicherweise) in der Überschrift.
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TZ öffnen, pffft - und los geht sie, die wilde Fahrt durch eine skurrile Duftgeschichte, die darauf wartet, zur Gänze entschlüsselt zu werden. --
Heilig's Blechle, ich sitz' auf 'nem Zahnarzststuhl. Und gleich zu Beginn gibt es eine Ladung Äther-Narkotikum auf die Nase - vielleicht um schmerzfrei zu werden für das was folgen wird?! Rostig-bitter riecht es jetzt. Der nicht mehr ganz neue Bohrer scheint in der Hand des gut gestärkten Weißen Kittels bereits hochtourig zu kreiseln; gut, dass ich das Geräusch nicht höre, aber riechen kann ich es allemal.
Aber da weht auch was Nettes zu mir herüber. Scheint aus dem Kittel der Zahnarzthelferin zu kommen. Irgendwie frisch, steril weich - und was? - Gummi? "Der Bohrer läuft heiß, und ein Lager der fleißigen Antriebswelle scheint dem Abfackeln geweiht zu sein, so sehr wie es plötzlich nach heißem Gummiqualm stinkt", geht es mir durch den benebelten Kopf. Oder? - Nee, doch nicht, der Brandgeruch verzieht sich bald wieder: Entwarnung! Versuche mich jetzt zu entspannen, soweit das auf einem Zahnarztstuhl möglich ist, wenn jeden Augenblick das Touchieren eines Nervs zu befürchten ist.
Das wird ne lange Sitzung, das dauert und dauert. Wenn doch die adrette Helferin nochmal in meine Nähe käme. Sie wirkte so beruhigend, als sie mir auf dem Marter-Liegestuhl den Latz umband und den Becher am Spuckbecken mit Wasser füllte. Aber sie ist beschäftigt mit dem akribischen Anmischen der Zahnfüllung. Medizinisch-ätherische Ausdünstungen einer weißen mineralischen Paste, die sie sorgfältig homogenisiert, ziehen zu mir herüber. Vielleicht schon Halbzeit? Wieviel Zähne sind heute dran? --
Als ich so über mein mehr oder weniger freiwilliges Ausgeliefertsein sinniere, befinde ich mich plötzlich in einem sakralen Raum. Mein Gott, geht das hier etwa nicht gut aus? - Strenger, aber auch irgendwie wohlmeinender Weihrauch erschafft eine Glocke um mich herum, die mich von den unglücklichen Geschehnissen trennt. Ein Segen ist das, aber auch ein bitterer Segen. Ist das alles noch real oder bin ich bereits in einer Zwischenwelt? In einer anderen RaumZeit? Einer Zwischenzeit? Oder gar einer Endzeit? Zumindest dehnt sich die Zeit scheinbar ins Unendliche, allerdings ins begrenzt Unendliche; denn die Hoffnung suggeriert mir, dass es noch ein Danach gibt. Alles gut, irgendwie, oder später zumindest...
Es beginnt nach Sarg zu riechen, in diesem sargralen AlbRaum, immerhin nach einem der edleren Sorte. Scheint noch in Arbeit zu sein, denn der Geruch ähnelt vielmehr dem Sägen von Holz. "Ein neues Zuhause ist im Entstehen, eines mit Wacholderbüschen drum herum", geht es meiner Nase durch den Sinn. "Wacholder, der Wach-halter“, lese ich gerade im Internet. "Als Baum des Lebens steht Wacholder für ein ewiges Leben, Gesundheit und Wehrhaftigkeit... Der Menschen am Leben erhält oder nach dem Tod wieder ins Leben zurückführt." Kann ich den Text bitte nochmal in Farbe haben? "Ins Leben zurückführt"? Also doch noch nicht alles vorbei? Es wird weitergehen! -
Wie kam ich eigentlich hierher, in diese triste Gedankenblase? Ist sonst weniger mein Terrain. - Ach ja, es begann mit depressivem Rost und endete beim Baum des Lebens. Und der hat noch ein paar nette Begleiter dabei, die unerwarteterweise doch noch für ein Happy-End sorgen. Wirklich?
Ambra weckt die Lebensgeister am 'Südpol' nicht gerade überschwänglich, aber der Wille zählt. Auch die Zistrose kommt nicht so richtig wirkmächtig zum Zuge.
So stehe ich hier und weiß nicht weiter. Der Duft-Phoenix auf dem Zahnarztstuhl liegt noch immer in seiner Asche, und keine Aufstiegsmöglichkeit ist in Sicht.
... sechs Stunden später: die Basis wird weich harzig, balsamisch, Zistrose-segnend, richtig gut.
Hält fast einen wackeren Tag lang.
Und der Phoenix? Es gibt für alles einen guten Zeitpunkt, auch für seinen Aufstieg aus der Asche. Die ist inzwischen erkaltet, die Thermik über ihr zusammengefallen. Ein Aufstieg ohne sie ist für ihn nicht möglich; und so sieht der Phoenix sich gezwungen, sich im Status Quo irgendwie einzurichten.
Wie ein Pyroklast eben. Der bei einem explosiven Ausbruch eines Vulkans entstanden ist und sich in seiner neuen Umgebung ohne Hitze neu formieren muss. Und letztlich, nach geraumer Zeit, entstehen neue Landschaften aus Pyroklasten, teils sogar besonders fruchtbare durch einen ihrer Gattung: vulkanische Asche. Eine Transformation kann offenbar auch ohne dramatischen 'Aufstieg aus der Asche' gelingen. Nämlich durch Anpassung, und zwar an die Aufgaben an jenem neuen Ort, wo einen das Schicksal hingestellt hat.
Muss den Parfümeuren zugestehen, was heißt hier 'muss', ich KANN ihnen jetzt zugestehen, dass sie mit ihrer Kreation einen pyroklastischen Prozess olfaktorisch sehr treffend nachgebaut haben, inklusive halb-ewiger Wartezeit auf die Entwicklung einer belebten Basis. In der Natur wäre das die Zeitspanne zwischen Vulkanausbruch und wiederkehrendem Leben in der ehemals verwüsteten Region. Dieser olfaktorisch nachempfundene Prozess muss einem als Duft nicht gefallen, aber er verdient ehrliche Anerkennung.
Bin zugegebenermaßen mit Vorurteilen an diese Beschreibung herangegangen, mit sarkastisch gespitzter Feder. Aber je weiter ich mich habe von dem Duft mitnehmen lassen, ihm zugehört habe und ihn verstehen wollte, desto klarer trat meine Lern-Lektion hervor: Nicht schnell urteilen, sondern so lange fragend einer Entwicklung folgen, bis sich ein Sinn erschließt. Theoretisch wusste ich das schon - aber jetzt weiß ich es anders. Nachhaltiger. Das war eine sehr wertvolle Duftreise für mich!
Und meine Komfortzone, ist die jetzt gewachsen? Eher nicht. Um ihre Wände zu verschieben, braucht es wohl existenziellere Uberschreitungen ihrer Grenzen, als es Duft-Reisen sein können. Dennoch fühle ich mich bereichert durch diese Reise mit überraschender und versöhnender Wendung. Ich fühle mich nun leichter, heller. Weil ich etwas nicht mehr nicht-mögen muss.
Die Antwort steht (möglicherweise) in der Überschrift.
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TZ öffnen, pffft - und los geht sie, die wilde Fahrt durch eine skurrile Duftgeschichte, die darauf wartet, zur Gänze entschlüsselt zu werden. --
Heilig's Blechle, ich sitz' auf 'nem Zahnarzststuhl. Und gleich zu Beginn gibt es eine Ladung Äther-Narkotikum auf die Nase - vielleicht um schmerzfrei zu werden für das was folgen wird?! Rostig-bitter riecht es jetzt. Der nicht mehr ganz neue Bohrer scheint in der Hand des gut gestärkten Weißen Kittels bereits hochtourig zu kreiseln; gut, dass ich das Geräusch nicht höre, aber riechen kann ich es allemal.
Aber da weht auch was Nettes zu mir herüber. Scheint aus dem Kittel der Zahnarzthelferin zu kommen. Irgendwie frisch, steril weich - und was? - Gummi? "Der Bohrer läuft heiß, und ein Lager der fleißigen Antriebswelle scheint dem Abfackeln geweiht zu sein, so sehr wie es plötzlich nach heißem Gummiqualm stinkt", geht es mir durch den benebelten Kopf. Oder? - Nee, doch nicht, der Brandgeruch verzieht sich bald wieder: Entwarnung! Versuche mich jetzt zu entspannen, soweit das auf einem Zahnarztstuhl möglich ist, wenn jeden Augenblick das Touchieren eines Nervs zu befürchten ist.
Das wird ne lange Sitzung, das dauert und dauert. Wenn doch die adrette Helferin nochmal in meine Nähe käme. Sie wirkte so beruhigend, als sie mir auf dem Marter-Liegestuhl den Latz umband und den Becher am Spuckbecken mit Wasser füllte. Aber sie ist beschäftigt mit dem akribischen Anmischen der Zahnfüllung. Medizinisch-ätherische Ausdünstungen einer weißen mineralischen Paste, die sie sorgfältig homogenisiert, ziehen zu mir herüber. Vielleicht schon Halbzeit? Wieviel Zähne sind heute dran? --
Als ich so über mein mehr oder weniger freiwilliges Ausgeliefertsein sinniere, befinde ich mich plötzlich in einem sakralen Raum. Mein Gott, geht das hier etwa nicht gut aus? - Strenger, aber auch irgendwie wohlmeinender Weihrauch erschafft eine Glocke um mich herum, die mich von den unglücklichen Geschehnissen trennt. Ein Segen ist das, aber auch ein bitterer Segen. Ist das alles noch real oder bin ich bereits in einer Zwischenwelt? In einer anderen RaumZeit? Einer Zwischenzeit? Oder gar einer Endzeit? Zumindest dehnt sich die Zeit scheinbar ins Unendliche, allerdings ins begrenzt Unendliche; denn die Hoffnung suggeriert mir, dass es noch ein Danach gibt. Alles gut, irgendwie, oder später zumindest...
Es beginnt nach Sarg zu riechen, in diesem sargralen AlbRaum, immerhin nach einem der edleren Sorte. Scheint noch in Arbeit zu sein, denn der Geruch ähnelt vielmehr dem Sägen von Holz. "Ein neues Zuhause ist im Entstehen, eines mit Wacholderbüschen drum herum", geht es meiner Nase durch den Sinn. "Wacholder, der Wach-halter“, lese ich gerade im Internet. "Als Baum des Lebens steht Wacholder für ein ewiges Leben, Gesundheit und Wehrhaftigkeit... Der Menschen am Leben erhält oder nach dem Tod wieder ins Leben zurückführt." Kann ich den Text bitte nochmal in Farbe haben? "Ins Leben zurückführt"? Also doch noch nicht alles vorbei? Es wird weitergehen! -
Wie kam ich eigentlich hierher, in diese triste Gedankenblase? Ist sonst weniger mein Terrain. - Ach ja, es begann mit depressivem Rost und endete beim Baum des Lebens. Und der hat noch ein paar nette Begleiter dabei, die unerwarteterweise doch noch für ein Happy-End sorgen. Wirklich?
Ambra weckt die Lebensgeister am 'Südpol' nicht gerade überschwänglich, aber der Wille zählt. Auch die Zistrose kommt nicht so richtig wirkmächtig zum Zuge.
So stehe ich hier und weiß nicht weiter. Der Duft-Phoenix auf dem Zahnarztstuhl liegt noch immer in seiner Asche, und keine Aufstiegsmöglichkeit ist in Sicht.
... sechs Stunden später: die Basis wird weich harzig, balsamisch, Zistrose-segnend, richtig gut.
Hält fast einen wackeren Tag lang.
Und der Phoenix? Es gibt für alles einen guten Zeitpunkt, auch für seinen Aufstieg aus der Asche. Die ist inzwischen erkaltet, die Thermik über ihr zusammengefallen. Ein Aufstieg ohne sie ist für ihn nicht möglich; und so sieht der Phoenix sich gezwungen, sich im Status Quo irgendwie einzurichten.
Wie ein Pyroklast eben. Der bei einem explosiven Ausbruch eines Vulkans entstanden ist und sich in seiner neuen Umgebung ohne Hitze neu formieren muss. Und letztlich, nach geraumer Zeit, entstehen neue Landschaften aus Pyroklasten, teils sogar besonders fruchtbare durch einen ihrer Gattung: vulkanische Asche. Eine Transformation kann offenbar auch ohne dramatischen 'Aufstieg aus der Asche' gelingen. Nämlich durch Anpassung, und zwar an die Aufgaben an jenem neuen Ort, wo einen das Schicksal hingestellt hat.
Muss den Parfümeuren zugestehen, was heißt hier 'muss', ich KANN ihnen jetzt zugestehen, dass sie mit ihrer Kreation einen pyroklastischen Prozess olfaktorisch sehr treffend nachgebaut haben, inklusive halb-ewiger Wartezeit auf die Entwicklung einer belebten Basis. In der Natur wäre das die Zeitspanne zwischen Vulkanausbruch und wiederkehrendem Leben in der ehemals verwüsteten Region. Dieser olfaktorisch nachempfundene Prozess muss einem als Duft nicht gefallen, aber er verdient ehrliche Anerkennung.
Bin zugegebenermaßen mit Vorurteilen an diese Beschreibung herangegangen, mit sarkastisch gespitzter Feder. Aber je weiter ich mich habe von dem Duft mitnehmen lassen, ihm zugehört habe und ihn verstehen wollte, desto klarer trat meine Lern-Lektion hervor: Nicht schnell urteilen, sondern so lange fragend einer Entwicklung folgen, bis sich ein Sinn erschließt. Theoretisch wusste ich das schon - aber jetzt weiß ich es anders. Nachhaltiger. Das war eine sehr wertvolle Duftreise für mich!
Und meine Komfortzone, ist die jetzt gewachsen? Eher nicht. Um ihre Wände zu verschieben, braucht es wohl existenziellere Uberschreitungen ihrer Grenzen, als es Duft-Reisen sein können. Dennoch fühle ich mich bereichert durch diese Reise mit überraschender und versöhnender Wendung. Ich fühle mich nun leichter, heller. Weil ich etwas nicht mehr nicht-mögen muss.
26 Antworten
Nun muss ich bloß noch einen Termin beim Zahnarzt vereinbaren.. , den Duft werde ich wohl nicht testen wollen.
Schön, dass Du Dich dennoch eingelassen hast auf dieses ungestüme Duftabenteuer!
Wünsche Dir noch einen angenehmen Sommerabend🍹, alkoholfrei natürlich
Diese 'unentschlossene Phase' hat er auch mir gezeigt, war ratlos, wie geht's denn jetzt weiter?... Aber des Rätsels Auflösung kam bei mir nach ca. 6 Stunden, als das Leben nach dem Vulkanausbruch zu den verwüsteten Regionen zurückkehrte.
Freue mich über diesen Austausch und wünsche Dir noch einen angenehmen Rest-Sonntag 🌞
lieben Dank für deine Reisebegleitung ins skurrrile Land von depressivem Rost und unbändigen Wacholder-"Wach-Halter"-Lebensbäumen
Fand den seltsam cremigdumpf.
Zuviel Wacholdershave aus dem Synthiaquarium auf Labdanumbasis.
Beaufort konnte es schon besser.
Für mich war der Duft weit entfernt von cremig, es gab ein kurzes weiches Intermezzo aus dem Kittel der Arzthelfering, ansonsten hat er ordentlich geknallt - vulkanische Eruption eben.
Wacholder habe ich auch sehr stark wahrgenommen, über Synthetik brauchen wir hier nicht reden - ist ein Mainplayer. Aber wie gesagt, der Wert dieser Komposition liegt in seiner erzählerischen Kraft. Und die war sehr fruchtbar für mich.
Toll, dass Du mich begleitet hast in diese zunächst depressive Stimmung, die schlussendlich eine versöhnliche und erkenntnisreiche Auflösung gefunden hat.
Dir wünsche ich noch einen entspannten Sonntag🌞
Du weist wovon Du sprichst! Danke für's Dabeisein beim Auflösen von inneren Widerständen. Oft sind diese ja ein Hinweis auf innere Baustellen unter tage. Oder zumindest von Vorurteilen. Wir sind voll davon - sie loszuwerden ist wie eine Befreiung.
Hab noch einen inspirierenden Sonntag🌞
Schön, dass Du mich begleitet hast auf diesem skurrilen Tripp🥰
Außerhalb der Komfortzone geht es oft darum, sich und seine (Für-)WahrNehmungen auf einen Prüfstand zu stellen. Das ist ungemütlich und anstrengend und verunsichernd. Das Ich verliert an Kontrolle, fühlt sich angegriffen, das ist erstmal stressig. Dabei wird eigentlich nicht das Ich, sondern nur seine Vorstellungen 'angegriffen'. Werden irrige Vorstellungen korrigiert, erlangen wir über diese Angelegenheit die Kontrolle zurück. Damit wird sie zum Bestandteil der Komfortzone. hat sie erweitert. Und macht uns souveräner, autarker und freier - so meine Erfahrung.
Wünsche Dir noch einen entspannten Sonntag 🫶
Wünsche Dir noch einen hellen und leichten Sommersonntag.🌞
Aber wirklich Klasse geschrieben...vom Zahnarztstuhl im Sarg liegend 🤣 könnte ich sein.... möchte aber dem Duft nicht Unrecht tun. Nach dem ausruhen im Sarg ging es ja noch weiter....
Prophylaxepokal für Dich meine liebe 🏆
Freue mich sehr, dass Du dabei warst auf dieser Reise, bis zum Ende 🫶