Paris - Édimbourg 2020

loewenherz
08.09.2022 - 13:20 Uhr
52
Top Rezension
8
Flakon
5
Sillage
5
Haltbarkeit
7.5
Duft

Over your cities grass will grow

lautet der Titel eines halbdokumentarischen Films über das Lebenswerk des Künstlers Anselm Kiefer, der auf einem verlassenen Industriegelände im Süden Frankreichs die Rückeroberung einer anthropogen ge- oder auch verformten Landschaft durch die natürliche Vegetation geschehen lässt. Er gibt so dieser - je nach Standpunkt Utopie oder auch Dystopie - oder vielleicht neutraler 'Vision' Raum und Kontur, wie das Zeitalter der Menschen eines Tages lautlos enden mag - und die Natur die Erinnerung daran wortwörtlich unter Gras versinken lässt.

Neulich stand ich vor einem Haus in einer großen Stadt im Süden - einem jener vielstöckigen Wohnhäuser entlang der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts angelegten Avenuen, wie es sie in den Städten entlang des Mittelmeers viele gibt. Ich blieb stehen, weil das Haus auf der Breite von nur einer Wohnung von Pflanzen wie in Besitz genommen schien - Oleander, Schlingpflanzen und Gummibäume, die zwischen den Fenstergittern und über die Balkone wucherten - gezähmt noch, aber nicht mehr lange, schon einen Meter über die Brüstung hinaus.

Und einen Augenblick lang konnte ich fast sehen, riechen, fühlen, wie sich die Pflanzen einst von diesem Balkon aus dieses ganze Haus zueigen machen würden - langsam, sachte, aber unaufhaltsam.

Nach diesem Balkon und diesem Haus, nach diesem Augenblick duftet Chanels Paris - Édimbourg.

Ich weiß natürlich, dass Paris - Édimbourg die Vegetation Schottlands thematisieren und zitieren will. Und wäre mir beim Schnuppern nicht unvermittelt jene Begegnung mit den wuchernden Pflanzen inmitten dieses ansonsten sehr nüchternen Hauses eingefallen - ich könnte wohl auch dieses Motiv in seinem grauen Grün erahnen. Aber stattdessen finde ich diesen einen Augenblick wieder - Düfte sind ja dazu in der Lage, verschüttet Geglaubtes ganz unvermittelt aus den Tiefen der Erinnerung freizulegen - ein Haus aus Stein, das unter weichem Grün versinkt.

Hier ist ein sanfter Duft, graugrün und still, von festem Wesen - ernst wie ein Versprechen, aber nicht ernst genug, als dass es bedrohlich schien. Hier ist der Duft des Saftes, wie er aus der Wunde einer verletzten Pflanze quillt, die dieser Verletzung jedoch nicht erliegen wird. Neben Wacholder und Nadelgehölzen bin ich fast sicher, Efeu zu entdecken, doch das mag trügen. Hesperidisches und die Rauheit des Vetivers fehlen mir beinahe ganz. Stattdessen nur die ruhige Unerbittlichkeit von grünem Gras, das einer namenlosen Ewigkeit still entgegenwächst.

Fazit: der leise, kraftvoll zartgraugrüne Duft von Gras, das Steine überwuchert. Weit jenseits von Schottland und Paris.
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