Anosmat3000
08.03.2023 - 07:22 Uhr
1
7
Sillage
8
Haltbarkeit
8
Duft

Lanzenbrecher

Ein halbes Jahr war der Flakon Crown Rose in meinem Besitz, bevor ich ihn zur Adoption freigegeben habe - heute wird er mich nun in hoffentlich wertschätzende Hände verlassen. In diesem halben Jahr habe ich keine Bewertung zu diesem Duft hinterlassen, kein Statement, keine Rezension. Vielleicht fünfmal habe ich ihn getragen in dieser ganzen Zeit, weshalb ich ihn nun ziehen lasse.
Keinesfalls aber lasse ich ihn ziehen, weil er mir nicht gefiele. Im Gegenteil, die durchschnittliche Bewertung von 6,6 (Stand 03/23) schmerzt - das hat dieses Kleinod nun wirklich nicht verdient. Daher nehme ich den Abschied von Crown Rose nun zum Anlass, diesem unverstandenen Kleinod eine Lanze zu brechen. Ein knappes, wertschätzendes Statement sollte es werden - mein Mitteilungsbedürfnis hatte andere Pläne, nun ist die ganze Chose ein wenig ausufernder geworden.

Zurück zur Durchschnittsbewertung: Während mir dieses kaltherzige Hatsichstetsbemüht in der Seele wehtut, kann ich doch die inhaltlichen Ausführungen hinter den Bewertungen meiner Vorredner/innen in großen Teilen nachvollziehen. Antiquiert, dumpf, aus der Zeit gefallen, abgestandenes Blumenwasser... ja, definitiv. Dieser Duft hatte seine Zeit, und die ist seit grob anderthalb Jahrhunderten vorbei. Und während die Damenduftcharts hier auf Parfumo durch die Bank retroesk dominiert sind, die Mode das vergangene Jahrhundert wiederentdeckt, der Massivholzesstisch der Uroma den Weg aus dem Schuppen zurück ins Esszimmer findet, wird dieser Sprössling aus der seligen Crown Perfumery wohl ebenso wenig eine Renaissance erleben wie etwa die klassische Hutmode. Und gerade dieser Umstand ist es, der Crown Rose für mich so faszinierend macht.
Ein roter Faden, der sich durch die weniger sachlichen Bewertungen hier auf Parfumo zieht, ist die Transportfähigkeit von Parfüms. Gute Parfüms wecken Erinnerungen, evozieren Bilder, Vorstellungen, Konnotationen. Dieses Parfüm sticht in dieser Hinsicht, gerade aufgrund seiner Ausderzeitgefallenheit, aus der Masse hervor - Crown Rose ist Zeitreisen aus der Flasche. Wo, wenn nicht hier, findet man sich in dem längst verschwundenen London der altehrwürdigen Kolonialherrenclubs, der Schneider und Hutmacher, der warmweich schummrigen Gaslaternen und deren Widerschein auf dem abnutzungspolierten Kopfsteinpflaster wieder? Das muss wahrlich der Duft einer damaligen Dame von Welt und Stand gewesen sein. Reinliche, distinguierte, anziehende Unnahbarkeit - durch die rosaromantisierende Retrobrille, versteht sich. Das London des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts muss in der Realität wohl weitaus schlotbestückter, rußüberzogener, pferdehinterlassenschaftenbeglückter und allgemein ein recht trostloser Schmelztiegel gewesen sein, aber das ist ein anderes Thema, wofür es sicherlich auch ein anderes Parfüm gibt.
Dass dieser Duft ebenso wenig zeitlos wie -gemäß ist, befähigt den/die Träger/in aber offenbar leider nicht nur zum Zeitreisen, sondern zwingt dessen/deren Meinungsbildung unweigerlich in recht binäre Bahnen. Dem konnte auch ich mich nicht entziehen, nur bin ich irgendwie am anderen Ende des Spektrums gelandet.

Um schlussendlich die armseligen fünf Male, die ich diesen Duft getragen habe, vollends in den richtigen Kontext zu rücken: Männlich, Mittzwanziger. In anderen Worten, bevor ich in die Gummizelle gesteckt werde - diesen Duft trägt man nicht da draußen unter Leuten - den trägt man für sich, lässt ihn wirken und genießt im Stillen. In dem Sinne ein letzter wehmütiger Zeitreisensprüher, dann wandert der Flakon ins Paket.
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