JacSi9
30.10.2020 - 14:27 Uhr
21
Top Rezension
9
Haltbarkeit
8.5
Duft

Von unheimlichen Dufterinnerungen und dem Schatten der Apfelbäume

Durch meine Parfumozeit zieht sich ein mystischer, spukhafter Faden. Er kommt aus dem Nichts. Dort wartet er offenbar auf mich, während sich die Erde vor sich hindreht und die Tage sich die Klinke in die Hand geben. Wenn er die Tür zu meinem Bewusstsein öffnet, klingelt er mit der Selbstverständlichkeit eines DHL-Boten. Dann kommt plötzlich ein Duft auf die kognitive Bildfläche, den ich monatelang nicht gerochen habe. Ich bestelle mir folglich eine Probe für einen erneuten Test und nicht selten schafft es jene Komposition als Flakon oder größere Abfüllung in meine Sammlung. Promise habe ich letzten Winter kurz in einem Kaufhaus gerochen. Das war‘s. Und jetzt steht er als 10ml-Travelspray neben meinen anderen Düften. Der Mystery-Faden hat wieder mit voller Spannkraft zugeschlagen. Verteidigung zwecklos.

Promise startet mit einem Apfel. Kein Satz, für den es Literaturpreise regnet, aber er stimmt zumindest. Kein frischer, knackiger Apfel. Weder grün-bissfest noch Teil von Edeka-Werbespots. Er lag bereits einige Zeit in Stammnähe des Apfelbaums, tiefrot und in seiner Reife auf gutem Weg ins Apfeljenseits. Doch er kann noch verzehrt werden. Warum in der Nähe eines Apfelbaums mit Holzlack experimentiert wird, weiß ich nicht. Doch so stellt sich der Sachverhalt dar – ich bin hier nur Berichterstatter. Dieser etwas scharf-metallische Geruch hält sich im Hintergrund und zieht sich in seiner Intensität im Duftverlauf zurück. Genau wie der angesprochene Apfel.

Die Sonne hat sich längst zurückgezogen. Hier ist nichts heiter, nichts süß und schon gar nichts Tutti Frutti. Es deutet sich bereits an, was später noch wichtig wird: Ein dunkler, schwerer Teppich aus erdiger Holzigkeit bahnt sich seinen Weg durch das Opening. Rauchschwaden ziehen am Horizont durch die Luft. Etwas Alkoholisches schwingt mit. Es könnte auch in unmittelbarer Nähe ein Holzfass versteckt sein, in dem lange Zeit ein Apfelbranntwein lagerte. Zu lange vielleicht.

Der Start ist in meinem Empfinden der herausfordernste Part von Malles Versprechen. Vielleicht auch ein Grund für die eher verhaltenen Bewertungen hier auf Parfumo. Die hätte ich objektiv betrachtet tatsächlich höher eingeschätzt – so objektiv man so etwas eben betrachten kann. Die Komplexität des Duftverlaufs hält sich vergleichsweise in Grenzen. Was der Komplexität des Duftes keinen Abbruch tut. In meinem Empfinden zieht sich vor allem die latent gärende Fruchtigkeit des Apfels zurück und macht Platz für einen Oud-ähnlichen Eindruck. Hierfür wird die Erdigkeit des Patchouli gepaart mit dem dunkel-holzigen Duft des Cypriols und der leicht animalischen Bibergeil-Kante verantwortlich sein. Labdanum verleiht eher verhalten Wärme. Ich finde, das ist eine sehr smarte Lösung. Im Vergleich mit Frédéric Malles The Night werden für 100ml anstelle der 1.100 Euro „nur“ 275 Euro fällig. Und das Beste: Es gefällt mir deutlich besser.

Nach der besagten Hauptentwicklung bleibt die dunkel-rauchige, etwas bittere Oud-Impression mit ordentlicher Ausdauer bestehen. Die Rosen-Bestandteile nehme ich nicht gesondert wahr. Bei diesem Duft darf mit einer gehörigen Tiefe gerechnet werden. Die „Fruchtigkeit“ schwingt als Echo mit. Eine gewisse Rauchigkeit bleibt, fügt sich aber bereitwillig ein. Ich empfinde den Duft als sehr breit, mit hohem Volumen, beinahe ein wenig saftig.

Die Dosis macht hier das Gift. Niedrig dosiert, vielleicht unter Textil, ist Promise gut tragbar für alle, die sich mit ihm nicht verkleidet fühlen. Primär am Abend und in der Nacht. Kalte Temperaturen sind hier nicht nur willkommen, sondern Teil der Jobbeschreibung. Mein Travel Spray wird dank der Kraft und Besonderheit des Duftes lange halten. Die Einsatzmöglichkeiten sind begrenzt, aber es muss auch Düfte für besondere Momente geben. Zwar bin ich kein großer Experte, was arabische Düfte angeht. Doch habe ich hier den Eindruck, dass das Marketing wirklich einmal Hand in Hand mit dem Produkt einhergeht. Der Duft zeigt Kante, verlässt das Gelände des westlichen Gewohnten und hält.

Mir gefällt Promise nach der 30-Minutenmarke am besten und ich kann nur empfehlen, dem Duft Zeit zu geben. So wie mir der spukhafte Faden Zeit gab, mich im Unterbewussten vorzubereiten. Auf im Schatten der Apfelbäume liegendes, sich von unserer Realität verabschiedendes Kernobst. Auf Holzlackexperimente. Und auf einen der interessantesten Oud-Eindrücke, den ich seit langem wahrgenommen habe.
5 Antworten