Libertine Neroli 2022

EauSavage
11.06.2022 - 19:03 Uhr
32
Top Rezension
10
Haltbarkeit
9
Duft

Das Amberhäuschen im Neroliwald.

Ein neuer Bianchi bedeutet für mich immer einen Besuch bei meinem Duftdealer und Veedelsnachbarn Holger Dubben in seiner Duftkunsthandlung. Und so hat er mir vorgestern einen kräftigen Schuss Libertine Neroli gesetzt.

Die gute Nachricht: Im Gegensatz zu Divine Perversion unter ihrem neuen Label Hedonik zuletzt, ist das hier wieder ein echter Bianchi. Francescatastisch sirupig und expressiv und irre markant eigen!

Der Name ist Programm, vermutlich steht er deswegen so plakativ fett auf dem neuen, etwas plumpen Label: Neroli ist von Anfang bis Ende prächtig und prominent, erst im Nachklang des Extraits am nächsten Morgen ist es nur noch eine Erinnerung. Aber es ist bianchisiertes Neroli und es wandelt sich, erst wird es gewandelt, dann wandelt es die Noten der Basis.

Von den zitrischen Kopfnoten angestrahlt betritt ein Neroli-Koloss die Bühne. Aber hier ist keine Sommerzitrik, keine kühle Erfrischung. Hier ist Orange, aber Libertine Neroli ist kein Fruchtduft, nein, nein, sowas Banales war auch nicht zu erwarten. Stattdessen strahlt golden leuchtend eine Melange, die ich in erster Linie als warme gleichzeitig herbe florale Eleganz "Pour Madame" verordne. Nie bitter, aber mit selbstbewusster, stolzer Sinnlichkeit.

Kein rosiger Rosenduft hier und die Iris packt weder Lippenstift noch Puder aus und sie ist hier auch nicht so typisch bianchibutterig, ich höre sie eher als weitere Musikerin im Trio Florale, wobei die Substanz des Duftes immer den Eindruck erweckt als sei jedes Instrument mehrfach besetzt, so volltönend ist der Klang.
Und selbstverständlich sind hinterm Vorhang die restlichen Musikanten schon zu vernehmen und wenn der Vorhang gelüftet wird, rieselt ganz kurz und nur ein kleines bisschen Vanillestaub von den Stangen, man kann ihn kaum sehen. Und dann ertönt die Ambersinfonie. Ja. Amber! Steht da nicht in den Noten, aber was auch immer Signora Bianchi neben Benzoe und Labdanum noch verwendet, ich bekomme Amber und das mehr als ich auf Leder sitze oder auf Moos wandel.

Hier möchte ich anmerken, dass Dealer Dubben nach seinen ersten Eindrücken von mir befragt, Leder deutlich wahrnimmt. Vielleicht ist es mir derbem Kauz zu leise, ich nehme es nicht als prominente Note am Frühabend des Mittags, an dem ich Libertine Neroli gesprüht bekam wahr. Erst am späten Abend zur Nacht und am Morgen danach sind die Übrigbleibsel eindeutiger moosig und ledrig.

Das Leder ist ein frisches, helles Leder, aber ein warmes, kein Neuwagenleder. Das Moos eher erdig als feucht-grün. Ach ja, und das Amber ist kein süßes, die oben erwähnte Vanille flackert nur ganz kurz am Horizont auf, und es ist auch kein orientalisches. Es ist ein wohliges, aber nie zu gemütliches Amber, dafür sorgt der Free Jazz, den die Floralik und die mysteriösen 'animalischen -' und Basisnoten beisteuern.

Ich nehme mal Bezug zu mir wohlbekannten Bianchis: Libertine Neroli ist weniger dunkelgrün, erdig und bitter als Etruscan Water und hat eine andere, auch geringere, jedenfalls weniger fleischliche Animalik als Under My Skin, aber ist auf seine eigene Art nicht weniger weich und sinnlich. Von der Narkotik des The Lover's Tale sind wir eine Duftwelt weit entfernt, aber - hach! - sehr betörend isses schon!
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