The Alchemist's Garden

The Eyes of the Tiger 2019

Sniffsniff
18.01.2021 - 10:08 Uhr
50
Top Rezension
6
Preis
10
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
10
Duft

Under my Amberella

Ich war genervt. Aber sowas von. Kennen Sie doch sicher auch? Dieses latente Genervtsein. Sie lesen und lesen, tagelang wird gelesen. Pyramiden. Hoch und runter. Da wird jeder Ägyptologe blass vor Neid. So viele schöne Pyramiden. Und dann haben Sie sich eine ausgesucht. Heureka. Die Pyramide Ihrer unerfüllten Duftträume. Diese eine, die alles in sich trägt, was Sie sich jemals von einer Pyramide erträumt haben. Die brauchen Sie unbedingt in Ihrer kleinen, erlesenen Pyramidensammlung. Und zwar SUBITO!
Und dann kommt auch schon der Postbote und wirft einen gänzlich unschuldigen Polsterumschlag in Ihren Briefkasten. Sabbernd und mit wehenden Lefzen stürzen Sie hinaus, zerfetzen sogleich die sorgfältig verschlossene Verpackung und sprühen noch im Flur gierig und wie in Trance die ersten Tropfen der heiß ersehnten Traumpyramide auf Ihren Handrücken. Instinktiv führen Sie die Hand in die Höhe und ... ZONK! Tja. Während Ihre Lefzen, der Schwerkraft und Enttäuschung nachgebend, noch den Weg in die Tiefe suchen, fragen Sie sich bereits, wie ein Duft, der von sehr vielen Menschen extrem positiv wahrgenommen wird, so himmelschreiend mittelmäßig sein kann. Und warum hat diese verdammte Pyramide derart dreist gelogen? Und wissen Sie was? Wenn es denn nur dieses eine Mal gewesen wäre ...
Aber nein. Je mehr Sie testen, desto weniger gefällt Ihnen. Vermutlich sind Sie anspruchsvoller geworden, lassen sich nicht mehr jeden ollen Ambrocashmeralonemaltolfusel unterjubeln. Und da beginnt dann die Misere.
Riechen Sie das auch? Diese Basis? Ja, genau! Ich meine diese Baaah-sis aus Weltraummoschus, die dafür sorgt, dass wir alle ein bisschen so riechen wie Hans-Jürgens altes Sweatshirt nach dem Weichspülerbad. Da setz' ich mir doch direkt die Hasskappe auf. Ein schönes Hobby haben wir uns da angelacht - Sie und ich. Und dann kostet der Quatsch auch noch echtes Geld! Da darf man doch ruhig mal aus der Haut fahren. Frustrationstoleranz ist schließlich nicht jedem in die Wiege gelegt worden.
Aber ich will hier nicht nur motzen, ist ja dauerhaft auch nix für die seelische Balance. Und macht Falten - außer bei mir natürlich. Denn manchmal kommt es ja durchaus ganz anders. Da können die Mundwinkel dann tatsächlich mal in Richtung Decke zeigen. Hatten Sie bestimmt auch schon hin und wieder. Mir passierte das nämlich erst kürzlich, als mir ein kleiner, unscheinbarer Zerstäuber aus einem dieser eilig zerfetzten Umschlagreste entgegenkullerte.
Gucci stand da drauf. Gut, das kann bös ins Auge gehen. Die können schöne Düfte. Zweifellos. Aber leider schaffen sie häufig auch ganz ungeniert das komplette Gegenteil. The Eyes of the Tiger. Mon Dieu. Da fischen wir aber in reichlich lyrisch-botanischen Gewässern. Trägt man bei der Namensfindung allzu dick auf, bin ich ja gerne direkt auf Konfrontation. Ist wie mit Kindern. Wenn der achtjährige Quentin-Cassian sich beim Schuhebinden blöd anstellt, tu ich mich auch schwer mit dem Applaus.
Aber nein, Gucci hat natürlich ein Konzept. Ich sach nur: Amber. Bei den Chinesen im fernen China symbolisiert der Bernstein nämlich die Seele des Tigers. Und was gilt wiederum als Spiegel der Seele? Jawoll. Sehen Sie, so schließt sich der Kreis und wir hätten geklärt, warum dieser (ich schreie es jetzt einfach mal ganz unverblümt in die Welt hinaus) traumhaft schöne, sanft vanillige und kuschelweich-harzige Amberduft so heißt, wie er heißt. Und wissen Sie, was das Schönste ist? Hier nervt mich gar nichts. Und das will was heißen. Normalerweise springe ich ja sofort aus dem Frack. Schon bei der kleinsten Ecke, die nicht genau da sitzt, wo ich sie gerne hätte. Diese Tigeraugen sind das reinste Sedativum für meine sanguinische Natur, sie trösten, sie umhüllen, sie spenden Wärme und Geborgenheit. Kein klitzekleines Bisschen Synthetik, nüscht! Ein kugelrunder, zutiefst harmonischer Duft, dessen außergewöhnlich natürliche Anmutung auch seinen (nunja, exorbitant hohen) Preis rechtfertigt. Oder sagen wir es besser so: Im Vergleich mit anderen maßlos überteuerten Düften riecht "The Eyes of the Tiger" deutlich hochwertiger.
Als ich mir heute Morgen vornahm, diesen Duft zu kommentieren, staffierte ich mich mit vier beherzten Sprüherchen aus dem kleinen Testzerstäuber aus und machte mich auf den Weg in den Stall. Nieselregen, knapp über dem Gefrierpunkt. Eine sanft-harzige Süße umfängt mich auf dem Weg über die Felder. Das Wetter ist sekundär. Der Duft wärmt mich. Regen? Na und? Er behütet mich. Und er tut dies ohne die spezifische Amberschwere, die so vielen stark ambrierten Parfums anhaftet und die ich abgrundtief hasse. Seien wir doch mal ehrlich - dieses zähflüssige Ambergefühl, das gerne noch ein kleines Häuchlein Animalik in sich trägt ... das taugt doch nichts. Pfuibäh! Da bin ich direkt wieder genervt. Das fühlt sich dann beim Atmen an, als hätte irgendein Pfiffikus die Luft geliert. Aber kein Grund zur Sorge. Die Tigeraugen sind frei von Gelatine und Pumakäfig. Der Duftverlauf ist insgesamt recht linear und unspektakulär. Auch hier bleibt der Duft seiner ruhigen, geerdeten Aura treu. Die federleichte Harzigkeit der Kopfnote geht nach und nach in die wohl schönste Vanillebasis über, die ich kenne. Dabei vernehme ich eine ganz leichte Pudrigkeit, die aber nie staubig oder schwülstig wird, sondern lediglich verhindert, dass der Duft auf die klebrig-schwere Seite der Vanille abdriftet. Die Süße empfinde ich dabei als perfekt ausbalanciert und niemals stechend oder schrill.
Achso, wenn Sie jetzt 'nen Wummser mit Totschlägersillage erwarten, weil Sie unbedingt wollen, dass die gesamte nördliche Hemisphäre an Ihrem guten Parfumgeschmack Anteil nimmt, muss ich Sie leider enttäuschen. Da müssen Sie zum Louis - der hat da was.
Sie sehen, ich find' den richtig gut. Der ist Balsam für meine genervte Seele. Ein Duft zum Ankommen, zum Bei-sich-sein, kein Wegduft, ein Zielduft. Ein therapeutischer Duft. Bestens geeignet zur Behandlung akuter Pyramidentraumata. Haben Sie's gemerkt? Der hat nämlich gar keine.
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