Habit Rouge Rouge Privé 2023

ChrisG86
24.04.2023 - 10:12 Uhr
13
Sehr hilfreiche Rezension
6
Preis
9
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
5
Duft

Ist der Reiter zum zweiten Mal vom Pferd gefallen?

Liebe Leser, allem voran möchte ich mich als großen Habit Rouge Fan bekennen. Ich besitze sowohl eine aktuelle Version des EDT als auch eine Version vor der Reformulierung. Daneben haben das EdP und sogar das EdC Platz in meiner Sammlung gefunden. Dankenswerterweise habe ich auch noch eine Abfüllung vom Extrait erhalten, die ich wie einen Schatz hüte, da er leider nicht mehr zu haben ist. Nicht zu weit gehe ich also, wenn ich mich als Bewunderer bezeichne. Er zählt zu meinen absoluten Favoriten.

Der Habit Rouge schreibt seit 1965 Erfolgsgeschichte. Aber nicht nur das Original, sondern auch viele der Flanker, die seit des Ur-Habit Rouge rausgebracht wurden, sind gut angekommen.
2022 war jedoch ein düsteres Jahr für die meisten Habit Rouge Fans. Der Jelk‘sche L’INSTINKT folterte das Volk. Voller Erwartungen war ich, als ich von dem Release las. Vielleicht intensiver? Möglicherweise stärker? Vielleicht eine längere Haltbarkeit? Das waren meine Erwartungen. Naja, wie die meisten Leute hier im Forum, habe auch ich gesehen wie der Reiter im roten Frack unter der Führung der neuen Trainerin Jelk erstmals vom Pferd gestürzt ist. Eine völlige Fehlinterpretation des schönen Klassikers. Allerdings verzeiht man einem so erfahrenen Sportler schnell seinen Fauxpas. Denn einmal ist keinmal. Er stieg 2023 sofort wieder aufs Pferd und erschien im neuen dunkelroten Gewand. Wow, dachte ich. Was kommt da? Es kann nur besser werden als letztes Jahr…,oder?

Nun, einer meiner Grundprinzipien ist es, mich nicht oder zumindest nicht lange mit schlechten oder negativen Dingen auseinanderzusetzen, weil dadurch Zeit für die schönen Dinge verloren geht.
Daher nehme ich mir auch grundsätzlich keine Zeit Rezensionen über Parfums zu verfassen, die ich nicht mag. Es reichen kurze Statements, die ich eher für mich selbst als Erinnerungsstütze betrachte, für den Fall, dass ich jenen Duft nochmal in den Händen halten sollte.
Beim HR Prive muss ich allerdings meine Luft rauslassen, denn ich bewege mich am Rande der Verzweiflung. Ich werde also im Folgenden eine Ausnahme machen und von meinen Prinzipien abweichen. Aber bevor ich mit Tränen gefüllten Augen Kopfnüsse auf den neuen HR Prive niederhageln lasse, muss ich zuvor dem werten Leser erklären, wie ich den originalen HR verstehe.

Immer wenn ich das Original HR auftrage, begebe ich mich auf eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit. Alles beginnt irgendwann im achtzehnten Jahrhundert. Ich sehe gepuderte Männer und Frauen in Barock-Kleidung vor mir, die mich durch imposante Schlösser und hübsche Schlossgärten führen. Finde mich dann wieder mitten im rosigen Glanze und Überschwang in einem Paris oder New York in den Roaring Twenties wieder. Frauen in Charleston Kleidern und Herren in feinen Anzügen und Black Ties feiern mit mir ausgelassen im Cotton Club oder im Moulin Rouge. Wieder ein Zeitsprung: Diesmal in die wilden Siebziger. Der charmante Sean Connery schüttelt mir die Hand. Wir plaudern etwas über seine Rolle in dem kürzlich in den Kinos erschienenen James Bond jagt Dr. No. Er verzeiht mir meine bescheidenen Englischkenntnisse. Bye Sean.
Schließlich endet meine Reise wieder in der Gegenwart. Vor mir mein Computer an dem ich gerade arbeite, ein Kaffee zur Linken und ein Gefühl der Glückseligkeit, das ich als Andenken von meiner kleinen Zeitreise mitgebracht habe.

Selten hat mich ein Parfum so gefesselt und mitgerissen, mich an die Hand genommen und mir ein gutes Gefühl gegeben. Mich nostalgisch und gar romantisch werden lassen. HR ist wie ein Foto von einem Ort an dem ich nie war oder einer vergangenen Zeit in der ich nie gelebt habe, aber gerne kennenlernen möchte. Er entschleunigt. Ist ein Refugium aus der hektischen Gegenwart. Womöglich ein Fremdweh-Gefühl? (Nein, kein Black Afgano Extrait de Parfum geraucht)

In Woody Allens Film „Midnight in Paris“ wird ein ähnliches wie das oben beschriebene Phänomen gezeigt: Der Protagonist, ein Autor, lebt im 21. Jahrhundert, liebt aber die romantischen Zwanziger und die Schriftsteller aus dieser Zeit und begibt sich auf mysteriöse Weise regelmäßig um Mitternacht auf Reisen in ein Paris der zwanziger Jahre. Er ist der irren Überzeugung, dass eine andere Zeit, in der er jedoch nie gelebt hat - in dem Fall die Zwanziger - besser ist als seine eigene. Im Film wird dieses Phänomen Golden-Age-Thinking (Goldenes Zeitalter Syndrom) genannt. Es ist eine Art Flucht oder Ablehnung der eigenen Gegenwart und der irrtümlichen oder sogar naiven Annahme, dass diese Zeiten besser waren, obwohl man sie nie kennengelernt hat. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass diese Jahrhunderte, Epochen und Jahrzehnte auch ihre Schattenseiten hatten. Und dennoch hätte ich sie gerne mal kennengelernt.

Ich könnte noch weiter über HR, dem Original, schreiben, aber ich schweife zu sehr ab. Hier soll es nicht um das Original HR gehen.

Der neue HR geht direkt in die Vollen. Er übergeht meine so geliebte Kopfnote des Originals. Ich vermisse die pudrige Note, die mich an das 18. Jahrhundert erinnert. Die leicht süße Rose, die mich in die Zwanziger katapultiert, fehlt gänzlich. Das zirtisch-spritzig-lockere Flair der Siebziger ist im Prive durch die heftige Bergamotte viel zu überladen. Stattdessen spielen im Prive insbesondere Bergamotte und Leder die Hauptrollen und bleiben ohne große Entwicklung konsequent präsent. Die Bergamotte erinnert mich stark an Kreationen aus dem Haus Acqua di Parma, mit denen ich nicht gut kann. Der Bezug zum Reitsport wird durch das kräftige Leder im Prive im Vergleich zum Original jedoch etwas klarer. Macht ihn aber deswegen nicht besser. Über allem schwebt eine leicht chemische Nuance, die ich abstoßend finde. In der Basis ist jedoch die familiäre Ähnlichkeit zum Original wieder erkennbar, die im Prive aber dennoch zu streng wirkt.
Insgesamt fehlt es mir an allen Stellen und Enden an der Klasse und dem Stil des Originals. Er besitzt nicht die Reinheit des Extraits, nicht die Tiefe und Dichte des EdP und auch nicht die Leichtigkeit des EdC.
Den Prive nehme ich lediglich als eine Kreation mit gewisser Ähnlichkeit zum Original im Drydown wahr. Ein Reiseführer oder eine Zeitmaschine, wie es das Original ist, ist er nicht für mich. Möglicherweise bin ich zu streng und meine Ansprüche zu hoch. Doch was das Original bei mir auslöst, ist mein persönlicher Maßstab, sodass er sich den Vergleich gefallen lassen muss. Deshalb kann meine Bewertung zum Prive auch nicht gut ausfallen.
Ist man mittlerweile im Hause Guerlain oder hinsichtlich der Fähigkeiten von Frau Jelk verunsichert? Hat man nämlich in Folge des vermeintlichen Misserfolgs von L’INSTINKT eine limitierte Version des Prive geschaffen, weil man einerseits einen zusätzlichen Kaufreiz schaffen und andererseits den Schaden eines weiteren Misserfolgs in Grenzen halten will?

Ich freue mich für alle, die Gefallen am neuen HR Prive finden und entschuldige mich, wenn ich positive Eindrücke oder Erwartungen an dem Duft mit dem Schleier der Ernüchterung bedeckt haben sollte. Meinem Original bleibe ich weiter treu. Irgendwann wünsche ich mir eine Neuauflage des Extraits, welches nicht mehr zu bekommen ist, da es noch die Krönung für meine Sammlung wäre.

Um meine Überschrift noch abschließend zu beantworten: Ja, er ist für mich zum zweiten Mal vom Pferd gefallen…und das liegt am Trainer.

Zum Schluss danke ich allen Lesern für diese anstrengende Rezension. Eine Haftung für bleibende Schäden übernehme ich nicht.
9 Antworten