Silences (1978) (Parfum de Toilette) von Jacomo

Silences 1978 Parfum de Toilette

Version von 1978
Skydiver19
27.09.2024 - 14:52 Uhr
11
Sehr hilfreiche Rezension
8
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9.5
Duft

Stille hinter der Stille

War schon sehr neugierig zu erleben, wie ein Duft dieses Namens komponiert sein mag. Wie kann man etwas zum Ausdruck bringen, das sich den Sinneswahrnehmungen entziehen will? Was sonst ist Stille? Es scheint ein Widerspruch in sich zu sein, wenn ein Sinnesorgan benötigt wird, um Stille, also die Abwesenheit von Sinneswahrnehmung, zum Ausdruck zu bringen.
Bin gespannt wie ein Flitzebogen (sagt man das heute noch?), öffne diesen Flakon mit der Nicht-Farbe Schwarz, tüpfele ein paar kostbare Tropfen dieses Vintage-Schätzchen auf mein Handgelenk - und los geht sie, die Reise ins NiemandsNichtsLand...

Ich komme sofort zur Ruhe... möchtemuss mich setzen - habe doch tatsächlich geglaubt, ich könnte diese Erfahrung stehend machen. Mein Fokus, der einzelne Komponenten herausspüren und identifizieren möchte, öffnet sich in der nebligen Aura der beginnenden KN mehr und mehr, wandert von Details hin zum weiten Horizont. Jetzt scheint alles simultan zu geschehen in diesem Duft. Da sind sanfte Bewegungen, ohne dass gleich erkennbar wäre, was sich bewegt, ein verschwommenes Etwas, ein Ungeteiltes, ein... ja, was nur? ... ich lasse mir Zeit...
Und die entschleunigte Zeit nährt in mir die Vorstellung - halt, warte, da will sich noch etwas herausschälen... es ist, wie wenn sich Gegensatzpaare, die in Düften oft eine faszinierende Spannung erzeugen als die zwei 'Seiten einer Medaille', nun zusammenfinden und hinter diese 'Medaille' zurücktreten. Als falteten sie sich zurück auf eine tiefere Ebene, aus der ihre Erscheinungen hervorgehen. Quasi in einen Urgrund der Dinge, wo sie noch ungetrennt existieren, bevor unsere Sinne sie in einzelne Komponenten aufdröseln.
Ja, diese Analogie scheint mir sehr stimmig: Unsere Sinneswahrnehmung fungiert wie ein Prisma, das die ungeteilte Wirklichkeit hinter den Dingen in einzelne Bestandteile zerlegt und aus der Nicht-Farbe Weiß nun Farben entstehen lässt.
Und im Vergleich zu anderen 'farbenprächtigen' Parfums scheint dieser Duft auf den ersten Blick wie weißes Licht daherzukommen, in dem alle Farbkomponenten in großer Ruhe und noch ungeteilt miteinander existieren. Alles ist gut. Alles ist noch vollkommen, in der Stille dieser nicht manifesten Wirklichkeit.

Im Buddhismus ist von der Polarität vom 'Nichts und Alles' die Rede. Auch ein Widersinn auf den ersten Blick. Doch schauen wir weiter: In der äußeren Stille schweigt die Sinneswahrnehmung. Die Welt ERSCHEINT uns wie ein NICHTS. Aber unsere Sinne nehmen nur einen winzigen Ausschnitt der unbeschreiblich komplexen und multidimensionalen Wirklichkeit wahr. In der Welt jenseits unserer Sinne, in der Stille hinter der Stille, pulsiert das von uns meist unbemerkte (nicht nur buddhistische, sondern auch quantenpyhsikalische) ALLES. Aus dem heraus alles Weltliche entsteht, wirkt und lebt. Wenn wir in die äußere Stille eintreten, unseren äußeren Geist zur Ruhe kommen lassen, innehalten, können wir einen leisen Anflug von der Stille hinter der Stille, den winzigen Hauch eines Zipfels einer blassen Ahnung erhaschen von einem gigantischen Alles, das bis in unser tiefstes Inneres hineinreicht.

Und dieses leise Ahnen beruhigt den unsteten äußeren Geist, der ständig etwas will, braucht und macht - ein ständig Getriebener. Und wenn dieser schweigt, können wir eintreten in die Fülle der Stille hinter der Stille.
Und S ist ein wunderbares Vehikel, das uns in diese tiefste innere Stille entführen will. Dorthin, wo von je her ALLES IST, BLEIBT und WIRD, wo es nichts zu verlieren gibt.
Auch wenn wir diesen Sehnsuchtsort nicht beim ersten Versuch erreichen - jeder Schritt in diese Richtung lohnt sich allemal.

Ein Erleben dieser Art hatte ich im Winter in Grönland bei minus 37 °C inmitten gigantischer Eisberge. Ich war schier überwältigt von der Übermacht der Natur, ihrer endlos scheinenden Wirkmacht. Wie klein und unbedeutend wir Menschen doch sind im Angesicht all dessen, was Naturkräfte imstande sind hervorzubringen.
Meines normalen Atemrhythmus' noch immer beraubt, fand ich mich wieder in einer Welt, die nur aus eisiger Stille zu bestehen schien. Die einzigen und unheimlichen Geräusche gaben stöhnende Eisberge von sich, die unter der Last der klirrenden Kälte ihre inneren Spannungen abbauten durch Risse in ihrem Kristallgefüge. Dann übernahm die lebensfeindliche eisige Stille wieder die Regie.
Doch hinter diesem unbarmherzig frostigen Schweigen der Natur tat sich in meiner Wahrnehmung ein neuer innerer Raum auf, eine angefüllte warme Stille, wie eine Umarmung aus einer anderen Welt, die realer und kraftvoller schien als alle bislang erlebte Zärtlichkeit. Demut war die einzige adäquate Haltung angesichts dieses ergreifenden Erlebens, das sich auf immer in meine Seele eingeschrieben hat.

***
Bis hier war die Rezizension vor allem die Beschreibung eines möglichen Weges dieses Vehikels namens 'Silences PdT'. Über das Vehikel selbst, also über das Parfüm, gibt es noch Folgendes anzumerken:
Die KN erinnert an die KN von Chanel No 19, grün, zitrisch-frisch, bewegt, ist allerdings weniger dynamisch, sondern deutlich gelassener. Und während C19 einen quirligen, aldehydigen Auftakt hinlegt, startet S mit einem leicht rauchigen Nebel, der vieles ahnen und nichts wissen lässt. Auch der ultrazarte Blütenschmelz aus blauen Farbtönen von Hyazinthe und Iris, im Zusammenspiel mit grüner Lieblichkeit von Maiglöckchen, findet Anklänge an den Grünen von Chanel. Rose und Jasmin, die lauteren Noten, bleiben über alle Phasen hinweg bescheiden in der zweiten Reihe.
Nach einer mehrere Stunden währenden HN mit ihrem transparenten, psychedelischen Farbspiel, bieten fein cremige und feucht-weich bemooste Holzanmutungen den subtilen Bewegungen einen sanften Halt, ohne dass die feinen 'Spektral'-Bewegungen vollständig abzuebben drohen. Die BN ist nach gut 7 Stunden zwar hautnah, aber noch sehr gut wahrnehmbar.
Insgesamt ist S ein introvertierter Duft, der nicht auf uns zukommen will, sondern uns mit dem Anflug eines wissenden Lächelns zu sich einlädt. In seine verborgene Welt. In seine achtsame und lebendig helle Stille.

10 Antworten
ElAttarineElAttarine vor 2 Monaten
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Auch die lange Fassung ist toll und sehr berührend, jetzt erst gelesen, danke dafür!
Greenfan1701Greenfan1701 vor 10 Monaten
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Einzigartig schön, was Du hier geschrieben hast. In den Bergen kann man so etwas manchmal auch noch erleben. :-)
Skydiver19Skydiver19 vor 10 Monaten
denke, dass uns die Natur überall wo sie still ist zu solchen Erfahrungen einlädt - wenn auch wir stille werden und unsere Gedanken zum Schweigen bringen...
SchrippeSchrippe vor 10 Monaten
Das hast Du wunderbar in Worte gekleidet und damit einhergehend Stimmungen erzeugt, die neugierig machen.
Skydiver19Skydiver19 vor 10 Monaten
Freut mich sehr das von dir zu lesen!
SerenissimaSerenissima vor 10 Monaten
Wunderschön und berührend.
Ich freue mich, dass Du, angeregt durch meine damaligen Gedanken zu "Silences" ein so tiefgehendes, die Seele berührendes Erleben finden kannst.
Und es weiterhin finden wirst, denn dieser Duft ist sehr facettenreich: Eben wie die Stille auch!
ErgoproxyErgoproxy vor 10 Monaten
1
In all seiner Zurückhaltung ein ausdrucksstarker Duft. Toller Kommentar.
Flakon11eFlakon11e vor 10 Monaten
Grandiose Rezension🏆
XyzXyzXyzXyz vor 10 Monaten
1
Äh - - wow … ??
Habe dieselbe Erfahrung mit Stille gemacht, nur ohne das Eisgrunzen und in Deutschland, im Wald bei Tiefschnee, 2002. - Krasse Rezi, Respekt
Skydiver19Skydiver19 vor 10 Monaten
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Wie schön! Hatte schon leichte Bedenken, dass diese spezielle Erfahrung etwas befremdlich wirkt. Ja, auch ohne Eisgrunzen 🤣 geht das. Die unberührte Natur ist ein starker Trigger.