L'Enfant Terrible 2011

Seelanne
03.03.2017 - 16:48 Uhr
41
Top Rezension
10
Flakon
8
Sillage
8
Haltbarkeit
10
Duft

Läufer auf c8

Hey John,

danke für Deinen Brief, hab‘ mich sehr gefreut.

Sorry, dass ich jetzt erst antworte, aber die Dinge laufen hier nicht so gut. Um ehrlich zu sein, beschissen. Nein, es ist nicht der Job: der macht mich seit eh‘ und je so fertig, dass ich ihn schon nicht mehr spüre, also nichts Besonderes. Es ist eher so, dass ich mich selbst nicht mehr spüre, weißt Du ? Meine Lungen hören sich an wie eine rostige Ziehharmonika, die Haut blättert ab wie ein verwitterter Hausanstrich und meine alten Hosen schlackern umher wie halbleere Einkaufstüten.

Der letzte Krankenhausaufenthalt ist jetzt 6 Monate her, direkt danach ging‘s mir besser als jetzt. Da musste ich wenigstens nicht arbeiten. Aber sie lassen Dich nur in Ruhe, wenn du stirbst. Jetzt gehe ich schon wieder ein halbes Jahr arbeiten und der Job killt mich.

Weiß auch gar nicht so recht, was ich Dir schreiben soll, aber Du sollst ein paar Zeilen haben. Wenn ich zu lange nachdenke, was ich schreibe, kommt mir immer der Verdacht, dass ich betrüge. Als wenn man eine Schachfigur woanders hinstellt, weil einem die Stellung nicht gefällt: Künstlich, unaufrichtig, irgendwie nicht real.

Dabei macht man den Mist doch jeden Tag: Figuren umstellen, so, dass es passt, damit man `ne bessere Stellung hat. Das Schicksal guckt nicht hin und schon schiebe ich `nen Läufer auf c8. So geht‘s dann wieder eine Weile. Selbst Erinnerungen lügt man sich so irgendwie um, bis man das Leben erträglich findet.

Die Leute sagen „Das Leben gibt dir die Karten, aber spielen musst Du selbst“. Als wenn das Leben eine verdammte Pokerpartie wäre. Aber das Leben kannst du nicht bluffen. Wir haben keine Aussicht auf den Jackpot. Wir spielen Schach mit dem Tod. Und immer, wenn er abgelenkt ist, mogeln wir und verrücken eine Figur, sodass wir wieder einen Tag gewinnen, eine Woche, vielleicht ein Jahr, manchmal sogar etwas mehr. Atmen ist nichts anderes, als den Ball im Spiel halten. Ihn interessiert das nicht, am Ende bekommt er uns ja doch. Dann, wenn so wenige Figuren übrig sind, dass man nix mehr hinbekommt, selbst das Bescheißen.

Anna lässt Dich übrigens herzlich grüßen. Du erinnerst Dich doch an sie: ja, sie hilft mir hier ab und an. Letztens sagt sie glatt, ich stinke. Jetzt habe ich mir dieses Parfum gekauft und sie sagt, ich würde immer noch stinken. Wobei: Nein, hat sie nicht gesagt, „Riechen“ hat sie gesagt. Also nicht mehr stinken. Immerhin: ein Fortschritt.

Dabei ist das Zeug wirklich gut, in schwachen Momenten könnte ich es trinken.
Allerdings haut Dir diese Tinktur zunächst einmal gehörig auf die Zwölf und gibt Dir ordentlich einen mit: Ein extrem krautiger Kreuzkümmel lässt Dich denken, Du hättest versehentlich das ungewaschene Shirt vom letzten Boxtraining angezogen. Aber es wird noch ärger: Danach kommen Koriander und Muskat als echtes Schläger-Duo hinzu und nehmen Deine Nase erst so richtig in die Mangel, als ob Dir ein paar üble Typen im Hinterzimmer eines zwielichtigen indischen Restaurants Deine Wettschulden aus dem Leib prügeln wollen.

Aber kaum die ersten schweißtreibenden Haken eingesteckt, ändert sich schlagartig die Szenerie und der ganze Duft kippt in eine völlig andere Stimmung: Auf einmal siehst Du Dich im edlen Anzug und hochpolierten Schuhen auf `ner erlesenen Dinnerparty `ne Lucky Strike aus dem Etui nesteln, während Du lässig an Deinem Martini nippst. Keine Ahnung, wie die das hinbekommen, das muss wohl an der Dattel und der Orange liegen, wobei beide zwar süßlich, aber nicht klebrig sind und das Bittere von Mr. Kreuzkümmel und seiner Gang so einfach ins Herbe hinein verwandeln.

So geht es rauf und runter: Wie in einem guten alten Gangsterfilm, der ständig zwischen 2 Parallel-Szenen hin und her switcht, bist Du in ein-und-demselben Moment schwitzend dabei, Deine Deckung oben zu halten und die um Dich herumfliegenden Jabs auszupendeln, um aber gleichzeitig der geheimnisvollen Brünetten im kleinen Schwarzen nebenan Feuer zu geben oder einen neuen Drink zu holen, während im Hintergrund Chet Baker "My funny Valentine" haucht.

Und während Du noch drüber sinnierst, ob Du die Dinnerparty eventuell nur träumst, weil Dich ein Schwinger von einem der Koriander-Kerle bereits in das Reich der Träume geschickt hast, stellst Du fest, dass Dich da die ganze Zeit ein holziger Zeder-Unterton schützend begleitet hat wie ein gütiger Engel, der über Dich wacht und Dich am Ende in einen warmen Mantel aus Moschus hüllt.

Das hat wirklich Stil, Mann. Ein Boxer im Smoking, ein Werwolf in Nadelstreif. Das ist das Beste, was mir seit Langem untergekommen ist. Irgendwo habe ich gelesen, dass die dafür `nen Preis gewonnen haben: Chapeau, den haben die sich verdient.

Ich rieche jedenfalls wie ein König und habe Anna glatt scherzhaft gefragt, wann wir heiraten. "Du glaubst wohl auch noch an den Weihnachtsmann" kam es mit einer viperhaft-zischenden Freundlichkeit zurück. Okay, mein Fehler. Du kennst ja die Story: Ich hätte sie vor 20 Jahren fragen sollen.

Es stimmt übrigens tatsächlich: Ich glaube an den Weihnachtsmann. Klar glaube ich an ihn. Irgendwann als Kind haben wir natürlich kapiert, dass das der Großvater ist oder der Alte oder so ein armer Typ, der seine Rente aufbessern will. Hab‘ mich da unheimlich erwachsen und schlau gefühlt, als ich dahinter gekommen bin. Aber Du weißt ja, wie das ist: Klugheit macht das Herz nicht satt. Und nach ein paar Jahren habe ich ihn dann irgendwann vermisst. Und da habe ich beschlossen, dass es den Weihnachtsmann wieder gibt.

Mit Weihnachtsmännern ist es so wie mit Gott: Wir haben den alten Mann da oben aus dem Himmel ausradiert. Aber was macht man mit einem leeren Himmel ? Ja okay, weitermachen, so gut es eben geht, klar. Wir können uns ja immer noch jemand anderen da oben hinsetzen, ein Du, eine Frau oder umgekehrt einen Kerl. Aber die werden sich auch immer ähnlicher, die Frau und ich, ich und Du. Wir haben auch die Frauen ausradiert bzw. die sich selbst. Emanzipation. Und nun ist meine Frau wie ich und ich werde langsam wie meine Frau. Wir verschwinden. Das ist der Witz. Und unser schöner Himmel ist wieder leer. Man muss immer aufpassen, Emanzipation ist so eine Sache: Irgendwann guckt man um sich und alles ist leer.

Den Erfolg gönne ich Dir jedenfalls von Herzen, ehrlich. Alles richtig gemacht. Und sag jetzt nicht, es würde nicht stimmen.

Ja, ich weiß, ich hör dich wieder reden „Das hättest Du auch alles haben können“. Aber ich war schon immer draußen, hab nie wirklich dazugehört. Dieses ganze Leben, ein Haus mit Kamin, eine Ehe mit geregeltem Wochenendsex, die Kinder an der Uni und erhabene Gesprächsabende mit befreundeten Paaren aus der Professorenszene. Dafür war ich nie bereit. Weiß gar nicht, ob ich‘s nicht wollte oder ob ich nur nicht gewillt war, den Preis dafür zu zahlen. Ich war schon immer zu langsam und dann steh‘ ich da mit meinen dunklen Winterklamotten, trete auf die Straße und stelle fest, dass der Frühling da ist mit seinen 15 Grad; und im Schrank nix als Winterkleidung.

Ich habe immer nur reagiert, das ist auf Dauer zu langsam. Dann macht das Leben, was es will und ich kann nur zusehen, was passiert. Mit fehlte schon immer das Vorausschauende, der Wille zum Planen. Ich gestalte nichts, das Leben modelliert an mir herum. Deshalb gab‘s auch nie einen Kamin.

So, das soll’s gewesen sein. Wenn ich Glück habe, habe ich morgen noch zwei Bauern. Und einen Turm. Türme sind immer gut.

Habe fertig.
Dein Hank
-in memoriam Charles B.-
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