Seelanne

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Seelanne vor 7 Jahren 33 6
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Duft
Katzenhaftes
I. Das Jahr 1935: Ein Wiener in England und eine Katze erscheint

Der Wiener Erwin Schrödinger, Professor in Cambridge, war ein kluger Mann: Als Mitbegründer der Quantenphysik befasste er sich mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält: mit den Atomen.

Erkenntnisse über Protonen, Neutronen und wie die Teilchen alle heißen, sind schwierig, verhalten sie sich doch wie pubertierende Teenager: Man weiß irgendwie nie, wo sie exakt sind, was sie machen und insbesondere, warum. Lediglich Wahrscheinlichkeiten lassen sich bestimmen. Sie verhalten sich einfach anders, als die übrige physikalische Welt und stellen Gesetzmäßigkeiten auf den Kopf: ja, sie können sogar an zwei Orten gleichzeitig sein, so vermutete Schrödinger. Und das Schlimmste: Wenn man als Wissenschaftler im Experiment als treusorgende Mutter ins Kinderzimmer hineinblickt, setzen die Teilchen ihre Unschuldsmiene auf, als wenn sie kein Wässerchen trüben können. Kaum macht man aber die Tür wieder zu, geht das Chaos wieder los.

Schrödinger konnte zwar dies Chaos trotzdem in Gleichungen fassen, aber recht wohl war ihm dabei nie, weil die Gesetze der Quantenphysik zu absolut absurden Schlussfolgerungen führen, wenn man sie von der atomaren Dimension auf Dinge des Alltags überträgt, wo die klassische Physik gilt. Insbesondere: was passiert, wenn beide System sich berühren ?

Und so rief Schrödinger in einem Gedankenexperiment eine Katze auf den Plan, um dieses Paradoxon zu beschreiben: In diesem Gedankenspiel koppelt er den Zerfall eines Atoms an ein normales "Objekt": eine Katze. Die Katze wird gedanklich in eine Box gesperrt zusammen mit einem radioaktiven Präparat. Beim Zerfall des Atoms wird ein Mechanismus ausgelöst, der eine Giftampulle zertrümmert, sodass die Katze stirbt. Im Verlauf einer Stunde bspw. kann eines dieser Atome zerfallen, vielleicht jedoch auch nicht, es ist nicht vorhersehbar. Nach der alltäglichen Physik wäre nun alles klar: Nach einer Stunde ist die Katze entweder tot oder lebendig. Nach den Erkenntnissen der Quantentheorie aber ist die Katze weder das Eine noch das Andere, sondern beides, sie ist „sowohl-als-auch“, gleichzeitig tot als auch lebendig, gewissermaßen in einem Überlagerungszustand.

II. Das Jahr 1948: Ein Engländer in Wien und wieder erscheint eine Katze

Regisseur Carol Reed war sicherlich nicht so klug wie E. Schrödinger, aber er verstand viel von guten Geschichten. 1948 bekam er den Auftrag, mit dem Schriftsteller G. Greene dessen Thriller fürs Kino zu inszenieren: „Der dritte Mann“.

Reed verlegt die Story um einen Penicillin-Schwarzmarkt-Schieber ins zerstörte Nachkriegs-Wien. Hier entdeckt er auch zufällig einen einheimischen Zither–Spieler namens Anton Karas: er läßt ihn stundenlang sich fast die Finger blutig spielen, bis er ein Lied hört, was ihn fasziniert und er beschließt, den ganzen Film ausschließlich von Karas vertonen zu lassen. Für die Rolle des Bösewichts wird Orson Welles für eine horrende Gage engagiert, dieser bedankt sich mit seinem improvisierten und seither berühmten „Kuckucksuhr“-Kurzmonolog, der überhaupt nicht im Script stand.

Dabei vergeht im Film fast eine Stunde, bis Welles überhaupt auftaucht: Harry Lime alias O. Welles, wird für tot gehalten, bis einem Freund aus Kinderzeiten allmählich schwant, dass er vielleicht doch noch am Leben ist: Mit jedem Zweifel wird Lime gewissermaßen immer mehr zu Schrödingers Katze, bei dem man nicht weiß, ob er denn nun tot oder lebendig ist, bis dem Freund auf einem Spaziergang durchs nächtliche Wien tatsächlich eine Katze auffällt, die Lime - in einem Hauseingang stehend - "verrät".

III. Das Jahr 1985: Das Haus Caron möchte nach Pour Homme und Yatagan seinen dritten Herrenduft lancieren:

Ob Akiko Kamei und Richard Fraysse, Parfumeure des Hauses Caron, Katzen mögen, ist nicht bekannt. Was sie und der damalige Chef von Caron aber offenbar sehr gerne mochten, war „Der dritte Mann“ und sein Thema: die Unklarheit, das „sowohl-als-auch“, bei dem man nie recht weiß, was tatsächlich der Fall ist.

Dabei beginnt der Duft – wie der Film – noch recht überschaubar: Der Auftakt ist eine würzige Frische, wie sie noch in vielen Fougeres zu finden ist: Eine recht gezügelte Zitrone, die jederzeit durch eine dominantere Bergamotte abgedämpft wird, während ein leicht-süßer Mandarinen-Akzent alle potentiellen zitrischen Spitzen aus einer fruchtigen Mitte heraus gefangen hält, selbst aber zu keinem Zeitpunkt überschwänglich wird.

Dieser Duft hat jedoch eine große, pulsierende Seele und sodenn beginnen unmittelbar anschließend bereits die Dinge des Herzens die Komposition zu übernehmen: Lavendel und Koriander brechen als echte Frühaufsteher fast schon übermütig in die Kopfnote ein, wobei eine forsche Gewürznelke die anfänglichen frisch-fruchtigen Fäden recht zügig ablöst und danach flankierend als herbe Note weiterführt.

Und damit nicht genug: nach und nach entwickelt sich ein zusätzliches und deutlich zu vernehmendes florales Bouquet: Jasmin scheint im Spiel zu sein, zuweilen meint man auch, eine Brise Patchouli sei mit von der Partie, definitiv aber Moschus, da sich eine leichte balsamische Süße und Cremigkeit dazugesellt, die nicht von der fruchtigen Mandarine stammen kann.

Manche Düfte sind wie Katzen, man weiß nie ganz genau, woran man bei ihnen ist: Der Duft hat in dieser Phase bereits weit weniger mit einem klassischen Fougere gemein, als vielmehr mit den unergründlichen Augen einer Katze, die nie ganz preisgeben, was hinter ihnen gedacht oder geträumt wird, changierende Diamanten, die je nach Gemütslage erlebnisreich funkeln oder verschlafen-verhalten blinzeln.

Dieser Eindruck wird umso stärker, als dass auch das Vetiver als Hauptelement der Basis schon zeitig eifersüchtig seine Hände zum Herzen hin ausstreckt, es zu halten bekommt und dann nach Stunden auf einem warmen Moos-Bett zu Ende führt.

In seiner changierenden Reichhaltigkeit ist Le 3e Homme ein einziges "sowohl-als-auch", eine Katze des Schrödingers, ein Orson Welles im Schatten, ein Gespenst, welches in den Wiener Katakomben immer wieder neue Wege und Wendungen sucht und findet, um mal hier oder dort zum Vorschein zu kommen.

In seiner Gesamtheit ist der Duft dabei wirklich klassisch, aber zugleich auch dandyhaft, versnobt, ohne jedoch eine gewisse konservative Seriosität zu leugnen. Cary Grant kann ihn tragen, aber auch Oscar Wilde oder ein David Bowie.

Historisch steht der Duft ohnehin zwischen den Stühlen: Für 1985 ist er überraschend distinguiert und steht im Kontrast zu den sonstigen Powerhouse-Kreationen der 80iger-Jahre. Und auch hausintern rangiert Le 3e Homme zwischen den damaligen Herrendüften von Caron: Nicht so unverschämt wie "Yatagan", aber reicher und lebhafter als "Pour Homme".

IV. Das Jahr 2017:
Spätere Nobelpreisträger haben zwischenzeitlich bewiesen, dass Schrödinger Recht hatte und die Katze tatsächlich „sowohl-als-auch“, also tot und lebendig gleichzeitig ist, der dritte Mann wurde zwischenzeitlich zum besten britischen Film aller Zeiten gekürt und läuft bis heute 3 x wöchentlich im Wiener Burg-Kino. Und auch Le 3e Homme hat die Zeit überstanden und findet sich bis heute in allen guten Parfümerien oder Online.

Man muss diesen Duft nicht zwingend mögen, genauso wenig wie man Quantenphysik oder Kino mögen muss: Aber ohne Zweifel ist Le 3e Homme einer dieser „One-of-a-kind“-Düfte, ein Meisterwerk, zeitlos irgendwo zwischen Avantgarde und Klassik.

Und die Katzen ? Wer Düfte liebt, liebt Katzen. Sowieso.
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Seelanne vor 7 Jahren 41 21
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Duft
Läufer auf c8
Hey John,

danke für Deinen Brief, hab‘ mich sehr gefreut.

Sorry, dass ich jetzt erst antworte, aber die Dinge laufen hier nicht so gut. Um ehrlich zu sein, beschissen. Nein, es ist nicht der Job: der macht mich seit eh‘ und je so fertig, dass ich ihn schon nicht mehr spüre, also nichts Besonderes. Es ist eher so, dass ich mich selbst nicht mehr spüre, weißt Du ? Meine Lungen hören sich an wie eine rostige Ziehharmonika, die Haut blättert ab wie ein verwitterter Hausanstrich und meine alten Hosen schlackern umher wie halbleere Einkaufstüten.

Der letzte Krankenhausaufenthalt ist jetzt 6 Monate her, direkt danach ging‘s mir besser als jetzt. Da musste ich wenigstens nicht arbeiten. Aber sie lassen Dich nur in Ruhe, wenn du stirbst. Jetzt gehe ich schon wieder ein halbes Jahr arbeiten und der Job killt mich.

Weiß auch gar nicht so recht, was ich Dir schreiben soll, aber Du sollst ein paar Zeilen haben. Wenn ich zu lange nachdenke, was ich schreibe, kommt mir immer der Verdacht, dass ich betrüge. Als wenn man eine Schachfigur woanders hinstellt, weil einem die Stellung nicht gefällt: Künstlich, unaufrichtig, irgendwie nicht real.

Dabei macht man den Mist doch jeden Tag: Figuren umstellen, so, dass es passt, damit man `ne bessere Stellung hat. Das Schicksal guckt nicht hin und schon schiebe ich `nen Läufer auf c8. So geht‘s dann wieder eine Weile. Selbst Erinnerungen lügt man sich so irgendwie um, bis man das Leben erträglich findet.

Die Leute sagen „Das Leben gibt dir die Karten, aber spielen musst Du selbst“. Als wenn das Leben eine verdammte Pokerpartie wäre. Aber das Leben kannst du nicht bluffen. Wir haben keine Aussicht auf den Jackpot. Wir spielen Schach mit dem Tod. Und immer, wenn er abgelenkt ist, mogeln wir und verrücken eine Figur, sodass wir wieder einen Tag gewinnen, eine Woche, vielleicht ein Jahr, manchmal sogar etwas mehr. Atmen ist nichts anderes, als den Ball im Spiel halten. Ihn interessiert das nicht, am Ende bekommt er uns ja doch. Dann, wenn so wenige Figuren übrig sind, dass man nix mehr hinbekommt, selbst das Bescheißen.

Anna lässt Dich übrigens herzlich grüßen. Du erinnerst Dich doch an sie: ja, sie hilft mir hier ab und an. Letztens sagt sie glatt, ich stinke. Jetzt habe ich mir dieses Parfum gekauft und sie sagt, ich würde immer noch stinken. Wobei: Nein, hat sie nicht gesagt, „Riechen“ hat sie gesagt. Also nicht mehr stinken. Immerhin: ein Fortschritt.

Dabei ist das Zeug wirklich gut, in schwachen Momenten könnte ich es trinken.
Allerdings haut Dir diese Tinktur zunächst einmal gehörig auf die Zwölf und gibt Dir ordentlich einen mit: Ein extrem krautiger Kreuzkümmel lässt Dich denken, Du hättest versehentlich das ungewaschene Shirt vom letzten Boxtraining angezogen. Aber es wird noch ärger: Danach kommen Koriander und Muskat als echtes Schläger-Duo hinzu und nehmen Deine Nase erst so richtig in die Mangel, als ob Dir ein paar üble Typen im Hinterzimmer eines zwielichtigen indischen Restaurants Deine Wettschulden aus dem Leib prügeln wollen.

Aber kaum die ersten schweißtreibenden Haken eingesteckt, ändert sich schlagartig die Szenerie und der ganze Duft kippt in eine völlig andere Stimmung: Auf einmal siehst Du Dich im edlen Anzug und hochpolierten Schuhen auf `ner erlesenen Dinnerparty `ne Lucky Strike aus dem Etui nesteln, während Du lässig an Deinem Martini nippst. Keine Ahnung, wie die das hinbekommen, das muss wohl an der Dattel und der Orange liegen, wobei beide zwar süßlich, aber nicht klebrig sind und das Bittere von Mr. Kreuzkümmel und seiner Gang so einfach ins Herbe hinein verwandeln.

So geht es rauf und runter: Wie in einem guten alten Gangsterfilm, der ständig zwischen 2 Parallel-Szenen hin und her switcht, bist Du in ein-und-demselben Moment schwitzend dabei, Deine Deckung oben zu halten und die um Dich herumfliegenden Jabs auszupendeln, um aber gleichzeitig der geheimnisvollen Brünetten im kleinen Schwarzen nebenan Feuer zu geben oder einen neuen Drink zu holen, während im Hintergrund Chet Baker "My funny Valentine" haucht.

Und während Du noch drüber sinnierst, ob Du die Dinnerparty eventuell nur träumst, weil Dich ein Schwinger von einem der Koriander-Kerle bereits in das Reich der Träume geschickt hast, stellst Du fest, dass Dich da die ganze Zeit ein holziger Zeder-Unterton schützend begleitet hat wie ein gütiger Engel, der über Dich wacht und Dich am Ende in einen warmen Mantel aus Moschus hüllt.

Das hat wirklich Stil, Mann. Ein Boxer im Smoking, ein Werwolf in Nadelstreif. Das ist das Beste, was mir seit Langem untergekommen ist. Irgendwo habe ich gelesen, dass die dafür `nen Preis gewonnen haben: Chapeau, den haben die sich verdient.

Ich rieche jedenfalls wie ein König und habe Anna glatt scherzhaft gefragt, wann wir heiraten. "Du glaubst wohl auch noch an den Weihnachtsmann" kam es mit einer viperhaft-zischenden Freundlichkeit zurück. Okay, mein Fehler. Du kennst ja die Story: Ich hätte sie vor 20 Jahren fragen sollen.

Es stimmt übrigens tatsächlich: Ich glaube an den Weihnachtsmann. Klar glaube ich an ihn. Irgendwann als Kind haben wir natürlich kapiert, dass das der Großvater ist oder der Alte oder so ein armer Typ, der seine Rente aufbessern will. Hab‘ mich da unheimlich erwachsen und schlau gefühlt, als ich dahinter gekommen bin. Aber Du weißt ja, wie das ist: Klugheit macht das Herz nicht satt. Und nach ein paar Jahren habe ich ihn dann irgendwann vermisst. Und da habe ich beschlossen, dass es den Weihnachtsmann wieder gibt.

Mit Weihnachtsmännern ist es so wie mit Gott: Wir haben den alten Mann da oben aus dem Himmel ausradiert. Aber was macht man mit einem leeren Himmel ? Ja okay, weitermachen, so gut es eben geht, klar. Wir können uns ja immer noch jemand anderen da oben hinsetzen, ein Du, eine Frau oder umgekehrt einen Kerl. Aber die werden sich auch immer ähnlicher, die Frau und ich, ich und Du. Wir haben auch die Frauen ausradiert bzw. die sich selbst. Emanzipation. Und nun ist meine Frau wie ich und ich werde langsam wie meine Frau. Wir verschwinden. Das ist der Witz. Und unser schöner Himmel ist wieder leer. Man muss immer aufpassen, Emanzipation ist so eine Sache: Irgendwann guckt man um sich und alles ist leer.

Den Erfolg gönne ich Dir jedenfalls von Herzen, ehrlich. Alles richtig gemacht. Und sag jetzt nicht, es würde nicht stimmen.

Ja, ich weiß, ich hör dich wieder reden „Das hättest Du auch alles haben können“. Aber ich war schon immer draußen, hab nie wirklich dazugehört. Dieses ganze Leben, ein Haus mit Kamin, eine Ehe mit geregeltem Wochenendsex, die Kinder an der Uni und erhabene Gesprächsabende mit befreundeten Paaren aus der Professorenszene. Dafür war ich nie bereit. Weiß gar nicht, ob ich‘s nicht wollte oder ob ich nur nicht gewillt war, den Preis dafür zu zahlen. Ich war schon immer zu langsam und dann steh‘ ich da mit meinen dunklen Winterklamotten, trete auf die Straße und stelle fest, dass der Frühling da ist mit seinen 15 Grad; und im Schrank nix als Winterkleidung.

Ich habe immer nur reagiert, das ist auf Dauer zu langsam. Dann macht das Leben, was es will und ich kann nur zusehen, was passiert. Mit fehlte schon immer das Vorausschauende, der Wille zum Planen. Ich gestalte nichts, das Leben modelliert an mir herum. Deshalb gab‘s auch nie einen Kamin.

So, das soll’s gewesen sein. Wenn ich Glück habe, habe ich morgen noch zwei Bauern. Und einen Turm. Türme sind immer gut.

Habe fertig.
Dein Hank


-in memoriam Charles B.-
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Seelanne vor 10 Jahren 39 14
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Duft
Der Sprung in die Leere
Die Leere ist ein seltsamer Ort.

Für Manche ist sie einfach nur das Nichts, für Andere ersehnte Heimat. Yves Klein gehört zu diesen Anderen. Für ihn ist die Leere der Ort, an dem alles beginnt und alles gelingen kann.

Der 19.Oktober 1960 ist ein trüber Herbsttag in Paris. Yves Klein steht auf dem Fenstervorsprung eines Hauses in der kleinen Rue Gentil-Bernard im südlichen Vorort Fontenay-aux-Roses. Er sieht nach unten, blickt auf den schmalen sandigen Bürgersteig, die unruhig verlaufende Bordsteinkante und die mit Teer grob geflickte Straße. Auch für ihn als angesehenen Judoka mit 4tem Dan ist es zu hoch für einen wirklichen Sprung. Lediglich runterspringen, das ginge sich noch aus, aber Yves Klein will nicht einfach nur nach unten springen, stürzen oder sich fallen lassen: er will in die Leere springen.

Auch beim Judo haben ihn schon immer die Bewegungen fasziniert, die gar nicht da sind, um dann jegliche Angriffsbewegung in den unsichtbaren Raum hinüberzuführen, die Umwandlung von Kraft in Bewegung und dann ins Leere. Und er hat schon so viel kreiert: hat den Himmel seiner Heimatstadt signiert, hat die Farbe seines Lebens, ein vollkommen neues Blau, das „International-Klein-Blau“, erfunden und patentieren lassen, hat Reihen einfarbiger Bilder, seine "Monochrome", erschaffen, hat Nackte als lebende Pinsel verwendet und gar eine komplette Ausstellung mit leeren Räumen erstellt.

Heute aber nun will er selber in die Leere. Er streicht sich die Ärmel seines Anzuges glatt, fährt sich durch die spärlichen Haare, blickt noch einmal um sich, sieht in den Himmel, spannt seine Muskeln und dann springt Yves Klein ab.

S.Lutens muss ebenfalls an die Leere gedacht haben, als er L‘Eau Froide kreieren ließ. Denn dieser Duft ist gewissermaßen ein Sprung in einen leeren blauen Raum.

Anfangs stößt man auf dessen Hülle, einen krautig-staubigen und doch medizinisch-chlorig wirkenden unsichtbaren Vorhang. Undefinierbar Rauchiges schlägt einem entgegen, kurz, scharf, trocken, etwas luftraubend, wie ein unerwarteter Jab in der ersten Runde beim Boxen; mit Wirkung, aber ohne lange Nachwirkung und ohne genau zu wissen, was es ist und wo es herkommt. Es mag Pfeffriges sein, wie angegeben, aber irgendwie ist es zugleich auch bitter, fast wie Kampfer.

Direkt danach reißt der Vorhang auf und es folgt eine mentholige Minze, anfangs noch begleitet durch das rauchig-Bittere als Pfefferminze, dann nach und nach als sich öffnendes ätherisches Menthol. Auch das hat eine gewisse Schärfe und Biss und es stellt sich schon kurz die Frage, ob die Geschichte als schnödes japanisches Heil-Öl enden soll, als sich dann transparente Weihrauchschwaden hinzugesellen.

Dieser Weihrauch -in keiner Weise klösterlich-muffig, sondern sauber und klar- bildet ab sofort das zentrale Thema, das Fundament und die Wände für einen sich nun offenbarenden kühlen Raum, der zum Himmel hin offen scheint. Die mentholige Minze bildet dabei den dauerhaften Gegenpart, manchmal etwas spitz, dann wiederum versöhnlich milde. Im Hintergrund versehen zudem Mineralien, Pfeffer und Nadelhölzer ihren spürbaren, aber unauffälligen Dienst.

Das mutet sehr minimalistisch an, hat Strenge und Stringenz, evoziert aber zugleich ein unerhörtes Gefühl für Raum, Luft und Leere. Immer wieder entsteht die Empfindung von frischem Quellwasser auf kühlem Gestein oder treibenden Eisblöcken in türkisem Polarmeer.

Der Duft bleibt bis in die Basisnote hinein pur, rein und sich selbst treu. Nirgends mischt sich Maritimes oder typisch-Aquatisches hinein. Lediglich gegen Ende der Kopfnote tritt noch ein seidig-weißer Moschus dazu, der im Untergrund die Fäden spinnt, den Weihrauch mit der Zeit zunehmend einfängt und dann allmählich zu Ende führt.

„Leere ist Form und Form ist Leere“: Der buddhistische Lehrsatz erhält seine duftmäßige Entsprechung: Dieser Duft schafft Raum, ein leerer Duft, der nur die Leere selbst vermittelt, keinen Inhalt. Ein leicht verstehbarer Duft, der selbst keine Aussage trifft, aber Raum schafft für Aussagen, Gedanken und mehr; ein abstrakter, ein meditativer Duft.

Seine Zerbrechlichkeit liegt dabei auf der Hand: ein relativ kurzzeitiges Kunstwerk, was sich nach 3-4 Stunden auflöst und verflüchtigt, auf der Haut und dicht um den Körper herum aber noch eine ganze Zeit lang eine unsichtbare Duft-Silhouette kreiert.

L‘Eau Froide, der Zweite der „Eau“-Düfte von Serge Lutens, dieser selbstbetitelten „Anti-Parfums“, ist sicher kein revolutionäres Werk, kein genialer Wurf. Er kann und will es aber auch nicht sein, da er sich selbst vollkommen zurücknimmt und nur Raum schafft für Anderes. Für den, der sowas mag, ist das phantastisch.

Als die Photographen Shunk-Kender am 19.Oktober 1960 auf ihre Auslöser drücken, erwischen sie Yves Klein am Scheitelpunkt seines Sprunges, dort, wo die steigende Bewegung für einen Bruchteil einer Sekunde innehält, bevor die Schwerkraft sie zur Kurve bricht und den freien Fall befiehlt. Yves Klein schwebt. Seine Arme sind ausgebreitet, während sein Kopf und sein Blick hoffnungsvoll-trotzig nach oben weisen. Dass er fallen wird, weiß er und spürt es auch in diesem Moment; er ist schließlich kein Idiot und hält sich nicht für Ikarus. Aber auf seinem Gesicht spiegelt sich trotz des Wissens um die Unmöglichkeit der Ausdruck desjenigen, der grade in das Glück eintritt.

Und so schwebt, als die Kameras klicken, Yves Klein nicht nur in die Leere, sondern wird zugleich irgendwie auch Sinnbild des Zitates seines Landsmannes Albert Camus, der Jahre zuvor aus dem Trotz gegen das Absurde, gegen die Ewigkeit des Scheiterns die Würde des Menschen postulierte: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen denken.“

Es ist unwahrscheinlich, dass Serge Lutens und Yves Klein sich jemals begegnet sind, ist Lutens doch grade einmal 13 Jahre alt, als Klein stirbt. Aber noch nicht an diesem trüben Herbsttage des 19ten Oktober 1960: Gemäß der alten Weisheit, dass die Kunst eine Lüge ist, die die Wahrheit erkennen läßt, landet Yves Klein weich und sanft im Sprungtuch. In den folgenden Tagen montieren er und Shunk-Kender das Photo vom Sprung und ein 2tes Photo der leeren Straße übereinander und Klein konzipiert, wie geplant, um das Photo herum eine Kunst-Zeitung, die nur am 27.11.1960 erscheint, dem Geburtstag seiner Ehefrau, der er noch Jahre zuvor auf einem Baugerüst das Leben gerettet hatte, als er sie vor dem freien Fall in die leere Tiefe bewahrte.

Zwei Jahre später stirbt Yves Klein dann aber tatsächlich, erst 34jährig: er erliegt seinem 3ten Herzinfarkt. Sein Sprung aber ging in die Kunstgeschichte ein, genauso wie sein von ihm geschaffenes neues Ultramarinblau, seine Auffassung von der Reduktion, dem Abstrakten, des Minimalismus' und der Leere.

"Wenn ich an Dich denke
Habe ich immer wieder den gleichen Traum
Wir gehen Arm in Arm
Auf dem verwilderten Weg unserer Ferien
Und dann, nach und nach
Scheint alles um uns herum zu verschwinden
Die Bäume, die Blumen, das Meer
Am Wegesrand ist plötzlich überhaupt nichts mehr
Wir sind am Ende unserer Welt angelangt.
Wenn Du eines Tages zurückkommst
Du, der Du auch träumst
Dann weiß ich, dass wir zusammen
Ohne ein Wort zu sagen
In die Wirklichkeit dieser Leere springen werden.
Komm mit mir in die Leere." *


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“Les Saut dans le vide“ / The leap into the void:
http://www.metmuseum.org/toah/works-of-art/1992.5112
http://31.media.tumblr.com/tumblr_mcxtfw9mww1qak9nro1_1280.jpg
*Yves Klein (1957)
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Seelanne vor 10 Jahren 16 6
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Duft
Der Rabe
Mitternacht umgab mich schaurig, als ich einsam, trüb und traurig
wunderliche Bücher forschte, bis mein Geist die Kraft verlor,
da der Schlaf schon kam gekrochen -auch die Augen wurden schwer-,
als ich plötzlich hört‘ ein Pochen deutlich von dem Fenster her.

Wohl hab ich’s im Sinn behalten, im Dezember wars, im kalten,
fast wie heute: im Kamin die Flammenmeute warf Gespenster ringsumher.
Sehnlich wünschte ich den Morgen, denn umsonst war’s Trost zu borgen
für die größte meiner Sorgen, für die Sorge tief und schwer,
ob Lenor, die ich verloren, bei den Engeln selig wär.
Ob die einst so sehr Geliebte nunmehr selbst ein Engel wär:
jetzt im Himmel - hier nicht mehr.

Die Gardinen rauschten traurig und ihr Rascheln klang so schaurig,
hört‘ ich wieder dieses Pochen, etwas lauter, doch woher ?
Jedes Rauschen der Gardinen, die mir wie Gespenster schienen,
füllte nun mein Herz mit Schrecken – Schrecken nie gefühlt vorher.
Wie es bebte, wie es zagte, als ich tröstend zu mir sagte,
„Ein Besuch wohl, der es wagte, in der Nacht zu kommen her,
oder gar der Fensterladen nahm wohlmöglich üblen Schaden,
dann kommt da das Pochen her; dies allein und sonst nichts mehr.“

Und wohl gestärkt nach diesen Worten, öffnete ich schnell die Pforten,
riss auf das hohe Fenster weit: doch keine Seele weit und breit.
Starr ins Dunkel ruhig spähend, stand ich lange, nicht verstehend,
Träume träumend, die auf Erden nie ein Mensch geträumt zuvor.
Wollt’ auch mich schon wieder wenden, als hat‘s doch noch sein Bewenden,
und durch das off‘ne Fenstergatter, herein mit laut und viel Geflatter,
stolziert ein Rab‘ gespenstergleich, wie aus alter Sage bei.
Flog mit mächt’gen Flügelstreichen, ohne Gruß und Dankeszeichen,
flog hinauf zur Türe her, setzt sich auf die Pallas-Büste,
die dort thront in Marmor schwer. Flog und saß da, und nicht mehr.

Da auf einmal füllten Düfte, weihrauchgleich die kühlen Lüfte,
Nelke, Holz und Kohle schwer, drang vom Raben zu mir her,
Und ich wähnte durch die Lüfte, wallten auch Zistrose-Düfte,
Asche, Harze und viel mehr, machten mir den Schmerz noch mehr.
Und auch dies, das war nicht nett, roch er gar nach ranzig Fett.
„Himmel“, rief ich, „süße Spende schicke Gott durch Engelshände,
Daß sich von Lenore wende meine Trauer tief und schwer!
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

Dieses Wort nur sprach der Rabe, dumpf und hohl wie aus dem Grabe,
Als ob seine ganze Seele in dem einen Worte wär’.
Ganz erstaunt war ich zu hören, dies‘ Geschöpf mich zu belehren,
Schien auch wenig Sinn zu liegen in dem Wort bedeutungsleer;
Denn wohl keiner könnte sagen, daß ihm je in seinen Tagen
so ein Tier erschienen wär’ mit dem Namen „Nimmermehr.“

Einen Augenblick erblassend ob der Antwort, die nicht passend,
brütend über Ungewissem, hob ich -hin und her gerissen-
meine Nase in die Luft, um mehr zu fassen von dem Duft.
Noch immer schwebten durch die Lüfte diese wundersamen Düfte,
Zimt und Amber brachen Bahn, sodass entgeistert ich vernahm,
dass sich dieser seltsam‘ Duft, gleichsam einer seltsam‘ Gruft,
um mich legte, nah und warm.
So sehr der Duft sich an mich schmiegte und meine Seele fast versiegte,
sah‘ der Rabe ruhig nieder, rührte Kopf nicht noch Gefieder,
unbeweglich sah er her und sprach wieder „Nimmermehr“.

Seine schroff gesprochnen Laute klangen passend, dass mir graute.
Seine Blicke und sein Duft: Immer höher stieg mein Staunen
ob des Raben dunklem Raunen, erinnernd an die ewge Gruft.
Seine Feueraugen wühlten emsig mir das Innerste empor,
und ich hört‘ in seinem Krächzen meine ganze Seele ächzen,
leiden, weinen um all das, was ich einst zuvor verlor.
Herz und Hirn schien fortgerissen, lehnte meinen Kopf aufs Kissen,
auf das violette Kissen, dass zuvor gehört‘ Lenor,
das ihr Haupt einst drückte hier, doch nun ‚ach‘ drückt nimmermehr.

„Rabe“ rief ich voll von Zweifel, „ob Du Vogel oder Teufel:
Ob dich Höllending die Hölle oder Wetter warf hervor,
wer dich nun auch trostlos sandte oder trieb durch leere Lande,
bei dem ew’gen Himmel oben, bei dem Gott, den ich verehr’:
künde mir, ob ich Lenor, die hier auf Erden ich verlor,
wiederfind‘ an Edens Toren - sie, die ist im Engelsheer -
Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

„Dann sei dies das Trennungszeichen, Vogel, Dämon, Du mußt weichen !
Du bist recht schäbig und geschoren und sogar auch unverfroren,
niemand hat dich herbeschworen aus dem Land der Nacht hervor.
Fort und laß mein Herz in Frieden, das gepeinigt Du so sehr,
laß‘ mich allein mit mei‘m Geschicke und wag' Dich nicht wieder her.
Pack dich, hörst du, du sollst fliegen und lass keine Feder liegen!
Hast mir weh das Herz durchstochen. Fort, von deinem Thron hervor!
Heb’ dein Wort aus meinem Herzen – heb dich fort, vom Thron hervor!
Friß nicht länger mir am Leben! Pack Dich! Fort! Hinweg Dich scher!"
Sprach der Rabe, "Nimmermehr."

Und der Rabe rührt sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer,
auf der blassen Pallasbüste, die er sich zum Thron erkor.
Seine Augen träumen trunken wie Dämonen traumversunken,
mir zu Füßen hingesunken droht sein Schatten tot empor.
Hebt aus Schatten meine Seele je sich wieder frei empor?
Sprach der Rabe: „Nimmermehr, nimmermehr, oh nie du Tor !“

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Anmerkung:

Der Rabe von E.A. Poe gilt als das bekannteste amerikanische Gedicht.
Das Gedicht wurde sprachlich neu gesetzt und umgestaltet, gestrafft und natürlich auch verkürzt. Die verschiedenen bekannten Übersetzungen von Elber, Etzel und Wollschläger wurden dabei teils verwendet, teils stark verändert und zuweilen miteinander kombiniert. (Auch die Simpsons-Version fand teilweise Eingang).

Hope you’ll like it………. Mistvogel :-)
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Seelanne vor 10 Jahren 46 17
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Duft
Zu Füßen des Meisters
Yatagan spricht zu mir:

"Fast alle werden als Original geboren
und machen den Abgang als Kopie.

Dreck und Schweiß sind relative Begriffe:
Frag‘ die Kakerlake und die Milbe.

Ich bin nur einsam, wenn ich unter Leuten bin.

Gestern hab‘ ich Gott getroffen. Ich hatte keine Fragen an ihn. Hab‘ ihm einen auf die Schnauze gehauen. Er hat genickt. Dann hat er mir einen auf die Schnauze gehauen. War okay. Anschließend haben wir einen getrunken.

Pandora war eine Frau.
Aber vielleicht hatte sie zumindest einen prächtigen Hintern.

Sterben ist nicht schlimm, ohne Sinn leben schon.
Eigensinn ist auch ein Sinn.

Bleib‘ mir bloß mit Moral vom Hals: Anstand reicht vollkommen. Wenn wir Anstand statt Moral hätten, wär‘ der Krieg schon ausgestorben.

Lederhosen sind cool – wenn sie lang sind.

Wenn Du was über’s Leben lernen willst,
sieh‘ einem Clown beim Abschminken zu.

Platon sagt, die Menschen sind bei Beginn der Welt als vollständige Kugeln vom Himmel gefallen und beim Aufprall in 2 Hälften zerschellt: Mann und Frau. So wollten es die Götter. Deswegen sucht seither jede Hälfte ihre andere passende Hälfte. Daher fahr‘ ruhig nach Kamtschatka oder Patagonien, wenn eine unbestimmte Sehnsucht dich treibt. Man kann nie wissen.

Ich will mein Geld zurück.

Egal, ob Du Schwarz siehst, im grünen Bereich bist, Schwarz-Weiß denkst oder mit weißer Weste in deinem grauen Alltag den roten Faden spinnst: Früher oder später erlebt jeder sein blaues Wunder.

Gefährlich sind nicht Löwe, Tiger oder der weiße Hai:
was Dich erledigen wird, sind die Wanzen."

Yatagan spricht zu mir. Ich glaube ihm jedes Wort.
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