Aglianico
18.01.2021 - 11:34 Uhr
16
Top Rezension
2
Preis
10
Flakon
6
Sillage
7
Haltbarkeit
8.5
Duft

Das blinde Huhn im Gewitter

Weil jeder Mensch ein Hobby braucht, habe ich mich heute an den Küchentisch gesetzt und angefangen, den schönen Orage von Louis Vuitton nachzubauen. Was man halt so in Zeiten des Lockdowns macht. Vorwegschicken muss ich, dass ich ein Ultra-Laie bin, was Duftstoffe, geschweige denn Parfumkunst anbelangt. Aber inspiriert von Heinssons‘ Blog wollte ich es doch zumindest mal ausprobieren und mich auf diesem Weg „andersartig“ einem von mir sehr geschätzten Duft annähern und vor allem meinem Lieblingsthema: der reduzierten Aussagekraft von Duftpyramiden. (Teaser: Heute habe ich hier einen „vor den Bug bekommen“).

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.

Nach zwei Stunden war der Duft fertig (14% Konzentration), relativ streng orientiert an der hier angegebenen Duftpyramide, und ausgeglichen zwischen natürlichen und synthetischen Materialien, wenn sich man Hedione als „Auffüller“ mal wegdenkt. "No budget limitations", wie ein gewisser Youtuber sagen würde (das Ergebnis kostete allerdings unter 2 Euro per 10 ml). Echtes Ambrette (allerdings ergänzt um – deutlich – mehr synthetischen Moschus), Iris (allerdings X germanica, etwas günstiger), Vetiver, dafür aber auch Clearwood (Patch-ähnlich). Bergamotte natürlich auch. Und noch ein bisschen Füllmaterial und Akzentuierung.

Wie gesagt, ich bin ein Laie und kann faktisch den Orage nicht nachbauen (wäre wegen des Preises aber sehr schön) – das Ergebnis erstaunt mich allerdings, da es zumindest deutlich in seine Richtung geht und mit 12 Zutaten auskommt. Der indirekte „Beweis“, das die hier angegebene Duftpyramide kein reines Marketing von LV ist, sondern wesentliche Komponenten wahrheitsgemäß darstellt, egal, ob jetzt synthetisch nachgebaut oder natürlich. Der Rest ist dann etwas Einlesen in sinnvolle Konzentrationen und Anteile, da gibt es online reichlich Infos zu.

Erkenntnisse meines Nachbaus: Doch recht viel sauberes Patchouli, wenig Vetiver (wäre aber auch sonst zu dominant), recht hoher Anteil eines Moschus-Akkords für die Fluffigkeit/Staubigkeit des Orage, viel Bergamotte (wie hier angegeben). Dunkelheit durch Patchouli/-artiges und Vetiver sowie eine Art Muffigkeit, die mir hier aber gefällt. Ich hoffe, dass echtes Ambrette verwendet wurde, denn das ist ein wunderbarer moschusartiger Rohstoff.

Abweichungen von meiner Variante: Der echte Orage ist sehr viel trockener, haltbarer, voluminöser, aber auch linearer mit Ausnahme der Bergamotten-Kopfnote. Meine „Variante“ ist frischer, weniger tief, etwas wärmer. Und natürlich unharmonischer :-) .

So viel zum Geruch und den Bestandteilen.

Die Haltbarkeit und Sillage sind im Vergleich zu anderen Herrendüften – meiner Meinung nach wohltuend – durchschnittlich. Nach dem ersten Tragen vor 1-2 Jahren dachte ich, die Staubigkeit/Muffigkeit würde mich langfristig von diesem Duft abbringen, doch Versuch macht klug. Inzwischen schätze ich den Orage genau dafür. Ein trockener, seriöser, maskuliner Duft, der für 30+/40+ gemacht sein dürfte (tragen darf natürlich jede/r, was gefällt). Grün, anfänglich frisch, dann immer trockener, aber ohne jede Kratzigkeit, irgendwie holzig. Ich könnte mir vorstellen, das Briefing an Jacques Cavallier-Belletrud lautete in etwa: „Mix uns mal so ein Terre d‘Hermès, das trotzdem eigenständig ist. Vetiver, aber nicht zu viel, das mögen dann nicht alle. Patchouli, wir sind zwar nicht Chanel, aber wären gerne so. Nicht zu metallisch, steinig, streng. Keine Süße. Tragbar im Büro, im Privatjet, im Chalet und beim Abholen der Kleinen aus der Kita. Kriegst du hin?“

Ja, hat Herr Cavallier-Belletrud hinbekommen. Sehr gut sogar. Einen Test wert.
5 Antworten