Baccarat Rouge 540 Maison Francis Kurkdjian 2016 Eau de Parfum

Die beiden im Titel genannten Fragen waren jene, die mich über die Tage, als ich Baccarat Rouge 540 testete, beschäftigten. Ja, ich weiß, dass es warm ist und dass dieser Duft eigentlich für die milderen bis kälteren Temperaturen konzipiert ist. Ich testete den Duft vorwiegend am Abend oder in der Nacht, da ich als aktuell viel beschäftigter Student die Nächte durchmache und an meinen Hausarbeiten schreibe. Zu dieser Zeit kühlt sich das Haus wieder merklich ab und das eher schwierig zu meisternde Testen bei jenseits der 30-Grad-Marke bleibt einem erspart.

Ich fragte mich, warum dieser Duft sich so verhält. Wie verhält er sich denn nun? Ich kann es euch sagen: hinterhältig. Sein Verhalten als hinterhältig zu beschreiben, ist vielleicht etwas unfair, denn ein Duft an sich, der sich ja nicht von selbst zubereitet, sondern zubereitet wird, kann in seinem Wesen an sich nicht hinterhältig sein. Ich habe dieses Adjektiv dennoch gewählt, weil ich seine Mitteilungsfreudigkeit ganz anders wahrnahm - ja - sogar gänzlich unterschätzte.
Beim Aufsprühen auf den Handrücken - wir reden wohlgemerkt über eine sehr geringe Menge, die aus dem Zerstäuber stammt - fällt mir der sehr leise Auftakt auf. Dieser wirkt zu Beginn stark alkoholisch und ich kann irgendwie nicht so richtig einordnen, was das genau sein soll. In den Kommentaren zu dem Duft las ich etwas von Tomatengrün und einem überzuckerten Zahnarzt. Der Geruch des Tomatengrüns kommt dem, was da aus dem Flakon kommt, schon sehr nahe. Den Duftcharakter charakterisiere ich somit als einen sehr distanzierten, der nicht, wie so manch anderer Winterduft, zum Kuscheln einladen will, sondern all seine Ernsthaftigkeit und Kühle nach außen hin ausstrahlt. Er hält sich seine gesamte Umgebung auf Distanz und erwartet vollsten Respekt. Doch auch Personen mit einer harten Hülle haben einen weichen Kern.
Im weiteren Duftverlauf wird eine ordentliche Portion Süße mit hinzugegeben. Diese Süße wird jedoch zu keiner Zeit klebrig und penetrant, was noch immer mit dem so seriös-distanzierten Grundcharakter des Duftes zu tun hat. Durch das Nichtvorhandensein des Klebrig-karamelligen haben wir es mit einer seriös und edel anmutenden, voll auf Ernsthaftigkeit und Reife ausgelegten Süße zu tun, die aber dennoch unglaublich raumfüllend ist. Genau dieses Raumfüllende ist es, das mich an die bereits erwähnte Hinterhältigkeit denken lässt. Die Sillage ist wirklich enorm stark. Das Gemeine bzw. Verwunderliche ist hier nur, dass man das selber so gar nicht mitbekommt. Ist das Opening noch verhältnismäßig zurückhaltend, wird der Duft wenig später erstaunlicherweise eher stärker als schwächer. Dies ist über eine Zeitdauer von mehreren Stunden so festzustellen. Baccarat Rouge 540 kommt somit wie die personifizierte Ernsthaftigkeit daher, die sich für eine Party unter aufgeweckten Menschen extra in ein Gewand aus Zucker geschmissen hat, um nicht ganz so ernst und verbittert zu erscheinen. Auf der Party, die sich aus lauter jungen, aufgedrehten Menschen zusammensetzt, tritt unsere personifizierte Ernsthaftigkeit mit einer Reife auf, von der die anderen Teilnehmer meilenweit entfernt sind. Irgendwann reicht es unserer personifizierten Ernsthaftigkeit jedoch bezüglich des unreifen Verhaltens der anderen und sie spricht ein Machtwort, sodass alle Blicke auf sie fallen, nur um sich im Anschluss wieder zu beruhigen und innere Ruhe sowie Seriosität auszustrahlen.

Der Duft ist und bleibt für mich ein Rätsel, doch ich mag ihn irgendwie. Sein Charakter ist so dermaßen einzigartig, sodass ihn wahrlich nicht jeder tragen kann oder tragen will. Er passt für mich in den tiefsten Winter, in welchem er um seinen Träger eine Aura aus Seriosität, Distanziertheit und Reife erschafft, die durch gelegentliche Süße versucht, zugänglicher zu werden. Seriosität und Reife werden meist auch mit enormen Ehrgeiz und damit verbundener Ausdauer assoziiert. An Letzterer mangelt es Baccarat Rouge 540 keineswegs. Auf der Haut hält er selbst nach einer Dusche 48 Stunden durch.