[⁸⁰Hg] Mercury 2013

Palonera
20.03.2019 - 13:17 Uhr
28
Top Rezension
8
Sillage
9
Haltbarkeit
4
Duft

"Der traut sich was!"

...hatte ich gedacht.
Nicht zum ersten Mal beim Test eines Duftes aus der Retorte von Antoine Lie, nicht zum letzten Mal vermutlich auch.
Der traut sich was.
Der macht Düfte ohne Rücksicht auf Verluste, auf persönliche Befindlichkeiten, macht Düfte für gerümpfte Nasen, hochgezogene Augenbrauen, für Mundwinkel, die nicht mehr auf noch nieder wissen.
Düfte wie "Sécretions Magnifiques", der einen Negativhype erlebt wie kaum ein zweiter.
Düfte wie "Divin' Enfant", den gefallenen Engel, wie "Eau de Protection", die Dornenrose aus Metall.
Düfte, die uns schütteln, uns aufrütteln, die manches mit uns anstellen – doch eines tun sie nicht: Sie lassen uns nicht kalt.

Dabei begann "[80Hg] Mercury" eher harmlos, wiegte mich in Sicherheit für zwei, drei, vier Sekunden – aquatischer Herren-Mainstream erhob sich von bepfützter Haut, unspektakulär, bekannt, enttäuschend.
Beinahe.
Denn nach diesen paar Sekunden schon begann "[80Hg] Mercury" zu strahlen, zu flirren, verströmte sich metallisch-eisiger Ozon und stieß meine Synapsen in "Sécretions Magnifiques", den Angst-Endgegner Dutzender von Nasen.
Dieselbe grelle Kälte, das scharfe Weiß, dasselbe "Halt die Nase zu!".
Herabgedimmt hier freilich, doch ein Geschwist, ein Onkel oder Neffe.
Das muß man – mögen, sicherlich.
Zuerst einmal jedoch ertragen, denn ein Parfum, ein Wohlgeruch ist das nun eher nicht.

Quecksilber, Idee- wie Namensgeber von "[80Hg] Mercury", gilt als eines der faszinierendsten und zugleich giftigsten Elemente des Periodensystems.
Bekannt als flüssiges Silber, als keckes Silber reizt es mit seiner silberweißen, tropfenbildenden Oberfläche das ästhetische Empfinden gleichermaßen wie den Spieltrieb – ein anziehendes, abstoßendes Spiel mit dem Tod, das Antoine Lie in "[80Hg] Mercury" zwar nicht analog mit meiner Nase spielt, das er jedoch für mich nachvollziehbar macht, indem er den kalten, klirrenden Facetten bonbonhafte Zwischentöne, seidenweichen Puder und dunkle, beinahe angekokelte, rauchgeschwärzte Holznoten gegenüberstellt, die sich nur in einiger Entfernung von der Haut ausmachen lassen, derweil unmittelbar in Hautnähe bis zum Ende hin die Verwandtschaft mit "Sécretions Magnifiques" vorherrschend bleibt.

Zwischen diesen beiden Polen entwickelt sich mit zunehmender Tragezeit eine von beiden grundverschiedene Duftwahrnehmung, die süßliche, florale, unangenehm alkoholische Aspekte beinhaltet, die mich an Josh Meyers "L'Orchidée Terrible" und meine dortigen Kellergeister-Assoziationen erinnern – eine Erinnerung, die ich bisher mit Erfolg verdrängt hatte, die nun jedoch mit Macht mein Empfinden überschwemmt.
Das ist und tut nicht gut – das zwickt mich in den Magen, stellt meinem Wohlgefühl ein Bein.
Soll das eine Warnung sein, ein "Komm mir nicht zu nah!"?

Drei Tage haben wir zu zweit verbracht, "[80Hg] Mercury" und ich.
Drei Tage, in denen sich an meiner Wahrnehmung jeweils nicht viel geändert hat – abgesehen von diesem dritten Tag, der eher zitrisch-frisch begann, bevor sich Wimpernschläge später Metall und Eiseskälte zeigten.
Drei Tage, in denen Menschen mir nicht ganz so nahe kamen, in denen mancher Blick mich streifte, den ich nicht recht zu deuten weiß - in denen ich jedoch sehr froh bin, daß der Mann an meiner Seite gerade nicht am Orte weilt.
Er täte sich – das weiß ich - schwer mit diesem Duft, schwer mit mir, die ich ihn trage.
Und einen vierten Tag, verzeiht es mir, den tu' ich mir nicht an...
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