Collection Noire

L'orpheline 2014

Umkehrfilm
15.09.2014 - 07:53 Uhr
23
Top Rezension
10
Flakon
10
Sillage
7.5
Haltbarkeit
7
Duft

Der traurige Serge

Serge Lutens ist eines meiner Lieblingsparfumhäuser. Mir fallen auf Anhieb wenige Düfte von ihm ein, die ich wirklich tragen würde; dennoch habe ich einen unglaublich großen Respekt davor, wie Serge Lutens an die Kreation seiner Düfte herantritt. Ich meine damit vor allem seinen Mut. Wenn man im Bezug auf Düfte so offenkundig Emotionen beschreiben/ beduften möchte, dann läuft man ja allgemein schnell Gefahr, dass man eben nicht verstanden wird. Denn ebenso wie wir alle Farben unterschiedlich wahrnehmen, nehmen wir ja auch Gerüche unterschiedlich wahr. Ergo: Was für den einen nach Sex riecht, riecht für den anderen nach Pissoir (z.B. die Menge an unterschiedlichen Kommentaren zu Kurkdjians Absolue Pour Le Soir).
Allgemein sehe ich Parfums als sehr abstrakt an. Und wie das eben mit abstrakter Kunst so ist, hebt sich ihr abstrakter Charakter schnell dadurch auf, dass man allzu didaktisch versucht sie zu erklären. Mir ist daher meist lieber, wenn dem Betrachter solcher Kunst genügend Raum für Interpretation geboten wird. Also noch ein Ergo: Serge ist sehr mutig.

Nun aber zum Duft.

L'Orpheline startet mit einer ungemein männlichen Rasierwassernote, sehr herb und sehr bestimmend. Weihrauch ist hier kaum wahrnehmbar. Das ganze wirkt eher sehr klar, erfrischend und erinnert mich an Barber Shops. Ein Hauch von Nostalgie und Vergangenem schwingt hier mit. Ich würde den Moschus also eher den Kopf-/ Herznoten zuordnen. Dann passiert etwas seltsames...ich rieche angedeutet auch Patchouli und eine ätherische Note, die mich wirklich stark an Comme des Garcons Hinoki erinnert. Hat der Besucher dieses Barber Shops vorher vielleicht im Garten gearbeitet? Nach einer guten halben Stunde beruhigen sich die Noten ein wenig, werden insgesamt sanfter und machen Platz für ein wenig Rauch. Hier beginnt nun auch der Weihrauch eine ganz leichte Wärme auszustrahlen. Dennoch sorgt der Moschus ständig dafür, dass der Duft auch etwas kaltes hat. Und schon wieder wundere ich mich, da ich eigentlich Moschus eher als warme und Weihrauch eher als kalte Note einordnen würde. Hier ist es genau umgekehrt. Der Moschus wirkt ganz klar und frisch, der Weihrauch leicht rauchig und wärmend. Vielleicht verdrehe ich alles und verstehe den Duft vollkommen falsch, vielleicht spielt er aber auch genau mit diesen Umkehrungen. So und jetzt...hmmm...bin ich schon am Ende mit meiner Beschreibung angelangt?

Was haben wir?
Kalte Noten treffen auf warme Noten.
Wir haben Anlehnungen an Erde, Rauch, Barber Shops und ätherische Noten.
Ein Hauch Nostalgie, meinetwegen auch ein wenig Melancholie, fließen ständig mit.

Was mache ich daraus?
Ich mache daraus den Arbeiter in der Mitte des 20. Jahrhunderts. An einem Sonntag, nach einer Woche harter Arbeit, entscheidet er sich für einen Besuch im Barber Shop und eine ordentliche Rasur. Ungemein schick verlässt er den Laden und macht sich auf den Weg zur Kirche, wo sich der zarte Duft des Weihrauchs in seiner Kleidung festsetzt. Nach dem Kirchgang geht er wieder nach Hause. Er betritt das Haus und macht sich auf in Richtung Küche, wo seine Frau bereits auf ihn wartet. Bei einem Glas Wasser erklärt sie ihm, er solle doch mal aus dem Fenster blicken. Draußen im Garten sieht er seinen Sohn. Der kleine Serge sitz dort traurig auf einer quietschenden Schaukel und hätte sich gewünscht, dass sein Vater sich an diesem Wochenende mehr um ihn als um sich selbst gekümmert hätte.

Damit kann ich eine Seite zuordnen, nämlich die der Eltern. Würde ich den Duft aus der Sicht des kleinen Serge beschreiben, käme mir deutlich stärker ein wahnhaft rebellierender Marilyn Manson in den Kopf. Ein Junge der nicht traurig, sondern vielmehr wütend ist. Und wie bei einem guten Film von David Lynch kann ich am Ende nicht wirklich sagen, was da eigentlich gerade passiert ist, welche Wahrheit ich wirklich wahrgenommen habe, welche Geschichte hier wirklich thematisiert wurde.

L'orpheline ist ungemein befremdlich, unergründlich und in seiner Untragbarkeit, fast schon wieder tragbar. L'orpheline ist grandios.
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