Liquid Karl 2004

Onfray
07.08.2021 - 17:02 Uhr
6
Hilfreiche Rezension

Das Opfer meiner Nase oder der vielleicht größte Parfum-Fake der letzten Jahrzehnte

Vorweg: Liquid Karl ist der bisher einzige Duft, dem ich mich über seine Entstehungsgeschichte genähert habe.
Und das bei einem Designer-Duft im Billig-Segment. Wer hätte das gedacht.
Zugegeben, die Zusammenarbeit zwischen Karl Lagerfeld bzw. seinem Label und H&M im Jahr 2004 war schon etwas nicht ganz Alltägliches. Vielleicht ist das bereits der erste Grund, der diesen Duft für mich besonders macht.

Und da ich mich dem Duft so genähert habe, möchte ich auch in der Rezension diesen Weg beschreiten.

Zuerst begegnet ist das Parfum mir noch namenlos und leider nicht mehr völlig rekonstruierbar in einer der zahlreichen Interviews oder Talkshow-Auftritte von Karl Lagerfeld. Ich kann immernoch nicht genau fassen warum, aber irgendwie faszinieren, ja fesseln mich diese Gespräche, insbesondere die ab Anfang der 2000er Jahre, die nach der letzten großen äußerlichen Verwandlung. Viele werden es wohl wissen, aber trotzdem sei nochmal gesagt, dass es sich dabei vorwiegend um eine strikte Diät handelte, mit der sich um die 40 Kilo auflösten und die insgesamt Teil einer Art Metamorphose der Person war.
In einem der Gespräche ging es also – wie häufig – um das Thema Abnehmen, Schlankheit, die von Hedi Slimane bei Dior geprägte schmale, ja dünne, „figurbetonte“ Männermode, durch die „Slim Fit“ und „Skinny Fit“ die Ära der Baggy-Jeans ablösten.
Letztlich kondensierten viele der Gespräche natürlich in den Fragen „wie haben Sie das geschafft?“ und „wie halten Sie Ihr Gewicht?“. Unter verschiedensten Hinweisen auf den Arzt, die Ernährung, die geänderten Gewohnheiten wurde auch einmal gesagt, Karl Lagerfeld habe sich einen Duft kreieren lassen, der ihn satt mache. Als Duft- und nicht wirklich Diät-interessiertem ließ mich das natürlich aufhorchen. Leider war dies nur eine kurze Episode, aber der Gedanke und die Idee waren in meinem Kopf verankert.

Natürlich habe ich dann begonnen zu recherchieren. Ich konnte aber nicht wirklich etwas finden, was es mit diesem „Sättigungs-Duft“ auf sich haben sollte. Wahrscheinlich eine Spezialanfertigung von irgendeinem Parfümeur oder Aromatherapeuten. Zahlungskräftig war der Kunde ja…
Ich hakte das Thema ab, vergaß es aber nie so ganz.

Einige Jahre später fügten sich für mich dann aber ein paar weitere Puzzleteile zusammen, die mich näher an den geheimnisvollen Duft brachten. Die wichtigsten waren ein Buch und ein Interview aus dem Jahre 2004.

Das Interview fand 2004 bei Reinhold Beckmann statt. Es ist auch noch gut auf youtube zu finden. Auch hier geht es um die Diät und auch um die Frage nach dem Einfluss der Gerüche.
Zwei Sätze fallen dort. Zunächst von Beckmann: „Es gibt doch Momente, wo man den Hunger riechen kann“. Später von Lagerfeld: „Vorher war ich das Opfer meiner Nase“.

Hierzu muss man wissen, dass 2004 genau das Jahr war, in dem die Marke Lagerfeld für eine Saison eine Kooperation mit H&M einging. Über diese Kooperation habe ich dann im Buch „Merci Karl“ von Arnaud Maillard gelesen.

Hier heißt es an der entscheidenden Stelle:
„Um die Kollektion zu vervollständigen hat Karl auch einige Accessoires entworfen: Armreife, Ringe und Gürtel. Und dann ist da noch das Parfum. Der Couturier achtet auf kleine Feinheiten – so hat er darum gebeten, dass mit den Entwürfen auch eine Probe des Parfüms nach Stockholm (zu den Verantwortlichen von H&M) geschickt wird. Er hat den Duft vor einigen Monaten kreiert, und sein Codename lautet: „Liquid Karl“. Das Parfüm riecht nach warmem Brot und Schokolade, die Karl „lieber in der Nase als auf den Hüften“ hat. Die Schweden werden bestimmt schwach…und tatsächlich akzeptieren sie alle Accessoires und das Parfüm.“

Nach dem ansonsten zugegebenermaßen eher mäßig geschriebenen Buch war ich natürlich elektrisiert. Sollte es sich bei diesem „Liquid Karl“ etwa um den gesuchten „Sättigungs-Duft“ handeln?
Einen letzten Beweis habe ich dafür natürlich nicht, aber als ich mir das (mittlerweile rare und kaum noch zu bekommende) Parfüm hier bei Parfumo bei dem lieben Easyfish besorgen konnte (vielen Dank nochmal an dieser Stelle für den angenehmen Deal) und es zum ersten mal roch, passte für mich alles zusammen.

Liquid Karl riecht einzigartig. Ich habe bisher nichts vergleichbares gerochen. Ich rieche tatsächlich Brot. Getoastetes, dunkles Brot. Ich habe es direkt verglichen. Getoastetes Vollkornbrot hat einen erdig/modrigen Apekt. Den hat man bei Croissants oder hellem Brot nicht.

Schokolade rieche ich dagegen keine. Also keine süße Schokolade, wie man sie zum Beispi im Benzoe-Harz wahrnimmt. Einen Kakao-Aspekt gibt es schon, aber eher die Kakao-Bohne im puren und eher wenig genießbaren Zustand. Zum „Bäckerei-Geruch“ fehlt hier komplett die süße Fettigkeit. Folglich macht der Duft für mich auch keinen Hunger. Er ist eher eine Erinnerung daran, dass die Befriedigung des Heißhungers auch keine dauerhafte Glückseligkeit bedeutet.

Die Komponenten der Duftpyramide sind aber durchaus wahrnehmbar. Das Frangipani scheint hier für die leicht modrige Süße zu sorgen, die eben keine Zuckersüße ist.
Die Kombination aus Zeder und Eichenmoos in der Basis ist natürlich sehr bekannt und sollte den Duft vielleicht tragbar machen. Kurz gesagt halte ich das allerdings für gescheitert. Ich empfinde den Duft als untragbar. Daher spare ich mir hier auch jegliche Worte zur Performance.

Das Bild, das sich in meinem Kopf fügte, macht diesen Duft für mich jedoch um so spannender und lässt mich jubeln, ihn in meiner Sammlung zu wissen. Es könnte sich hierbei um einen Zweckduft für einen bekannten Modeschöpfer handeln, den er sich zunächst kreieren ließ, um sich ganz persönlich beim Abnehmen zu helfen. Ob er ihn selbst als Parfum oder eher als punktuellen Duftreiz verwendet hat, weiß man nicht, ich würde jedoch auf letzteres Tippen. Das Verblüffendste an der ganzen Geschichte ist aber, dass dieser Duft dann (eventuell mit ein paar kleinen Anpassungen aber im Kern wie gehabt) einem der damals erfolgreichsten Schwergewichte in der niederpreisigen Mode angeboten wurde und dass die Verantwortlichen diesen untragbaren Duft sofort angenommen und als Parfum auf den Markt gebracht haben.

Kommerziell erfolgreich scheint der Duft wie auch die gesamte kurze Saison der Kooperation Lagerfeld und H&M gewesen zu sein. Fortgesetzt wurde er aber wohl zu recht nicht, der vielleicht größte Parfum-Fake der letzten Jahrzehnte.
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