Ich klinke mich mal mit einer scheinbar unpopulären Meinung in diesen Thread ein.
Ich denke die Behauptung, dass Düfte "verwässert" würden ist hauptsächlich Verschwörungstheorie. Die Menschlichen Sinne - besonders der Geruchs- und damit verbundene Geschmackssinn - sind deutlich fehlbarer, als das die meisten Menschen wahrhaben wollen. Stimmung, Umgebungsgerüche, Klima und weitere Faktoren beeinflussen, wie wir einen Duft wahrnehmen. Ich bin mir sicher, wenn man den gleichen Duft auf das rechte und das linke Handgelenk sprüht, wird man unterschiede erkennen, obwohl es sich objektiv um das absolut gleiche Produkt handelt.
Priming (also das geistige Voreinstellen) spielt eine sehr große Rolle. Wenn man Menschen erzählt sie würden drei verschiedene Weine verkosten, dann finden sich auch Unterschiede, wenn in allen drei Gläsern das gleiche drin ist. Und wenn man dann noch die Flaschen unterschiedlich teuer aussehen lässt, oder gleich Preise dazu gibt, dann wird der (vermeintlich) teuerste Wein oft am besten bewertet. Obwohl es der gleiche ist.
Dass reformuliert wird ist natürlich auch wahr. Oft wegen neuer Richtlinien. Manchmal auch um einen Duft dem anzupassen, was man als aktuellen Kundengeschmack wahrnimmt. Selten aus Kostengründen. Denn reformulieren ist nicht billig. Und am Ende darf es ja auch nicht zu weit vom Original weg sein. Als für mich positives Beispiel von Reformulierung möchte ich "Musc Ravageur" ansprechen. Den fand ich in der alten Formulierung viel zu krass, aber in der aktuellen Version ist er einer meiner absoluten Lieblingsdüfte. Es war einfach zu viel des guten und für mich schwer tragbar.
Viele der alten Klassiker waren einst deutlich animalischer. Dreckiger. Während der Anfänge der modernen Parfümerie von Beginn bis Mitte letzten Jahrhunderts trug der Herr Zibet. Bei dem Gestank, der in den Großstädten geherrscht haben muss, kam da auch nichts anderes darüber hinweg. Das wäre für moderne Kunden mit Sicherheit verstörend. Aber es gibt auch gewisse Rohstoffe, die in dieser Menge einfach nicht mehr verfügbar sind. Düfte waren absolute Luxusprodukte. Da gab es nicht so viele Kunden wie heute, aber die hatten viel viel Geld. Echtes Ambergris, Mysore Sandelholz, echter Hirschmoschus, Zibet, Bibergeil. Das ist nicht in rauen Mengen vorhanden und der steigende Bedarf hat zumindest den Moschushirsch und das indische Sandelholz an den Rand der Ausrottung getrieben. Um die Produktion hochzuskalieren ist eine Reformulierung mit synthetischen Ersätzen notwendig. Und wie bereits gesagt, wären viele Düfte dem heutigen Kunden zu krass animalisch. Wie andere schon angesprochen haben muss heute nicht mehr so stark gegen Zigarettengeruch und die ungewaschenen Massen angeduftet werden.
Ich habe mal gelesen, dass die Guerlain Extraits schon noch recht nach an den Originalen wären. Im Mitsouko Extrait wird/wurde angeblich noch echter Ambergris verwendet. Die Preise sind entsprechend. Und obwohl die Konzentration sehr hoch ist, strahlen Extraits nicht so krass ab, wie man es sich von einer zwei- bis viermal so hohen Duftkonzentration erwarten würde.
Ich denke dieses Thema ist voll von subjektiven Eindrücken, die mit Objektivität verwechselt werden. Selbst bei Düften, die den selben Formelcode haben behaupten Menschen, sie wären reformuliert. Kilian Hennessey selbst hat gesagt, dass keiner seiner Düfte reformuliert wurde. Trotzdem wird behauptet, dass dies der Fall sei. Ich denke auch, dass es genug Düfte gibt, die reformuliert wurden, ohne dass es aufgefallen wäre.
Ganz viele der Düfte, die angeblich so stark schwanken und reformuliert wurden sind auch stark von Fälschungen betroffen. Das spielt wohl auch noch mit rein.
Es ist hier nicht alles schwarz oder weiss. Es gibt Düfte, die in Grund und Boden reformuliert wurden. Es gibt Düfte, die nicht reformuliert wurden, von denen es ständig behauptet wird. Dass die Hersteller die Konzentrationen sukzessie senken würden kann ich mir kaum vorstelle. Natürlich könnte man den jus mit kostengünstigen aber geruchlosen ätherischen Ölen verdünnen um nicht die Alkoholkonzentration hochzusetzen. Aber das so etwas weitläufige Praxis ist, kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt nicht die eine Wahrheit hier, denke ich. Es gibt viele Faktoren, die sich zu einem recht komplizierten Gesamtbild vereinen.
Die Parfumo community ist nicht der Mainstream. Und selbst wir hier sind uns nicht einig. Viele Menschen wollen scheinbar nur schwach duften, während genug user hier brachiale Urgewalt wünschen. Besonders im asiatischen Markt ist dezenter Duft gefragt, wobei auch dort sich die jüngeren Generationen manchmal hart eindieseln. Im arabischen Raum kann es fast nicht zu brutal sein. In Südamerika werden viel Bodysprays verwendet, die dann irgendwie alle recht frisch geduscht riechen sollen. Und irgendwo sind da auch noch die Duftenthusiasten, die aber auch nicht zwangsweise das gleiche wollen.
Am Ende vom Tag bleibt einem denke ich nur übrig die eigenen Sinne nicht für zu objektiv zu halten und das zu kaufen und zu tragen, was einem gefällt. Wenn es einen alten Duft so nicht mehr gibt, dann ist dem halt so. Traurig. Aber das Leben geht weiter.