Yatagan
25.05.2016 - 14:28 Uhr
48
Top Rezension
9
Flakon
8
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft

Lindenblüte x Neroli = Stil

Eine Wahrnehmung von Welt, die auf Kausalzusammenhänge reduziert bleibt, vielschichtige Erklärungsmuster ausblendet, monokausale Erzählungen multikausalen, komplexen Erklärungsclustern vorzieht, hat Konjunktur; nicht nur in der Politik, sondern auch in unserer "Erklärung" von Welt, wie sie in den Nachrichten, in gesellschaftlichen Diskussionen (von Diskurs wage ich nicht zu sprechen) und dem, was man gemeinhin Mentalität nennt, eingeschrieben und gespeichert ist.
Mentalitäten, die Wahrnehmung dessen, was über den rein subjektiven individuellen Rahmen des Selbst hinaus geht, prägen unser Denken und Handeln als prädisponierte Denk- und Handlungsmuster, reduzieren Komplexität und machen uns letztlich handlungsfähig. Die ihnen eingeschriebenen Diskurse, an denen wir teilhaben, artikulieren diese Sicht von Welt und machen deutlich, wie unterkomplex Wirklichkeit von uns häufig wahrgenommen wird. An sich ist nichts Schlimmes daran. Würden wir "Wirklichkeit" (was ist das?) ständig auch nur annähernd so komplex wahrnehmen, wie sie ist, wären wir im Alltag lahmgelegt. Dennoch schadet es nicht, sich von Zeit zu Zeit klarzumachen, dass das, was uns als "Wahrheiten" in Medien verkauft wird, häufig nur ein winziger Ausschnitt dessen ist, was Sachverhalte ausmacht. Woher kommen beispielsweise politisch motivierte Aggressionen? Vielleicht daher, dass unsere (i.e.S.) kapitalistische Weltsicht anderen Weltregionen die Rolle der Peripherie zuweist? Vielleicht daher, dass religiöse Diskurse zu unterschiedlichen Auffassungen von sog. Wahrheit führen? Vielleicht daher, dass in politischen Systemen der Faktor Macht bestimmend ist? All das und noch viel mehr. Und nichts davon allein ist wahr.

Nun zu Duft i.w.S.: Ich selbst beobachte mich permanent dabei, wie ich meine Wahrnehmung von Duft unsinnigerweise absolut setzen möchte, obwohl es doch kaum eine Wahrnehmung geben könnte, die subjektiver, weniger objektiv und intersubjektiv vermittelbar wäre als die Wahrnehmung eines Duftes. Schon das, was wir SEHEN, ist eine Konstruktion von Wirklichkeit, die in unserem Gehirn geschieht. Wer sagt, mir, dass das, was ich als BLAU wahrnehme, auch das, ist, was Du als BLAU wahrnimmst? Wir sehen etwas, das wir gleich bezeichnen ("blau"), wissen aber nicht, was der andere sieht, hat er doch seit seiner Kindheit gelernt, das, was die Mutter als "blau" bezeichnetet, auch als blau zu bezeichnen. Kaum anzunehmen, dass es exakt das Gleiche ist. Und selbst wenn es so wäre: Was sieht ein Dritter, ein Vierter? Was also RIECHT ein Dritter und ein Zehnter? Was riecht der oder die andere? Wie kann ich dir und mir etwas über das vermitteln, was ich da gerade rieche und wie viel davon ist sozial konditioniert? Warum erscheint uns Oud zuweilen fäkal, während es anderen Menschen ein Gefühl von Wohlsein, Behütetsein und höherem Bewusstsein vermittelt? Warum liebt eine die Orientalen, während der andere die Hesperidien-Düfte mag? Was davon ist genetisch bedingt, anerzogen, selbst gewählte "Tradition", was davon dem Augenblick und seinen Begleiterscheinungen geschuldet?

Dieser Kommentar eignete sich vielleicht besser als Blog (wo er auch stehen wird), würde es da nicht einen Twist geben, der mich dazu brachte, ihn doch noch einem einzelnen Duft zuzuordnen.

Die Düfte von Harry (resp.) Lutz Lehmann fallen aus allen Schemata, die wir gewohnt sind, an Düfte anzulegen. Im Einzelnen: Wir kennen Klassiker, die uns prägten, Drogeriedüfte, die preiswert, aber dafür zumeist nicht gar so überzeugend sind, Nischendüfte, die uns beeindrucken, für die wir aber auch tief in die Tasche greifen müssen, Mainstream-Düfte, die hier zur Referenz negativer Zuschreibungen geworden sind. Letztlich also scheinbar eine Frage von Qualität und dem, was ich bereit bin, für Qualität zu opfern. Beeinflusst sind wir über das oben Gesagte hinaus von Werbung, der ein großer Teil des Budgets für einen neuen Duft zufließt.

Bei Harry Lehmann ist alles anders: Die Firma hat m.W. wenigstens in den letzten Jahren (und ich kenne sie seit ca. 15 Jahren) nie auch nur einen Euro für Werbung ausgegeben. Das Geschäft in der Berliner Kantstraße repräsentiert den Charme der Fünfziger, den man mögen muss (oder eben nicht mag). Der Internetauftritt ist selbstgestrickt und wird wohl heutige Internetgenerationen nachhaltig verschrecken, vielleicht abschrecken. Die Düfte selbst kosten wenig, sind zwar nicht billig aber rundum preiswert. Die Flakons stammen aus der Serienproduktion eines Glasherstellers, sind zwar schön anzuschauen, aber auch vollkommen schlicht und ohne jede Zier. Die Aufkleber dürften aus den Anfangstagen der Marke stammen (was nach dem Berliner Lifestyletempo natürlich wieder hip ist, weil es sich selbst überholt und somit wieder beim Anfang ankommt: Retrocharme - könnte man es nennen, wäre er bewusst eingesetzt und nicht Teil von echter Tradition). Und alles, was nun bei dieser Anti-Welt (KEINE Werbung, KEINE Hipster-Kultur, NICHT teuer und exklusiv, NICHT durchorganisiert professionell usf.) herauskommt, ist dennoch Qualität, und zwar, wie ich bei einem umfangreichen Vergleich und Test der Düfte feststellen konnte, eine solche, die mich persönlich (denn wie könnte ich davon ausgehen, dass meine Wahrnehmung von Qualität der euren entspricht) mehr als zufrieden stellt: ich bin geradezu begeistert.

Dies aber hier ist nun, ganz abgesehen von der umfangreichen Rede, kein Kommentar, keine Besprechung von Harry Lehmanns "Lindenblüte", sondernd die von mir - aufgrund eines unten von PrisAloha empfohlenen Layerns mit Neroli - gewagte Misch-Bestellung von Lindenblüte x Neroli (Mischung: 50% / 50%). Natürlich wurde diese Bestellung, wie auf der Homepage für alle denkbaren Mischungen in Aussicht gestellt, von Lutz Lehmann anstandslos umgesetzt und zugesandt. Was dabei herauskommt, ist mehr als schön: Der helle, frische, orangenblumige Auftakt von Neroli, das quasi den Part der Kopfnote übernimmt, mildert die Süße der Lindenblüte, die zuweilen eher feminin wahrgenommen wird und schafft so eine Balance, die ich für harmonisch und spannungsreich zugleich halte. Natürlich ist der Duft eher blumig (was erwartest Du bei Neroli und Lindenblüte), aber er hat auch eine herbe, etwas strenge Note, die ihn absolut unisex-tauglich macht, wie ICH meine. Entstanden ist ein Duft, der Stil hat, noch mehr, wie ich denke, als die beiden Einzeldüfte, auch wenn diese schon fast einen Überschuss an Stil enthalten, wie die schönen Kommentare von Fittleworth auf unnachahmliche Art deutlich machen.

Dies also ist das Plädoyer für mehr Weitsicht, weniger Enge in Bezug auf die Eigenwahrnehmung, mehr Bereitschaft zum Wagnis: das Ergebnis könnte dich überraschen, auch wenn es kein exklusiver Duft mit erwartbarer, voraussagbarer Qualität zu sein scheint. Es ist das Plädoyer für Düfte von Harry (heute: Lutz) Lehmann und für die Bereitschaft, auch Preiswertes zu würdigen und zu schätzen, vielleicht gerade, weil es preiswert UND gut ist - und wo bekommt man das heutzutage noch so leicht: fast nirgends, wie ich meine, aber HIER.
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