Zeitenwende, ick riech dir kommen
»Bin ich schon drin?« rührte ein nicht unberühmter Tennisprofi doch gerade eben noch die Werbetrommel für AOL und im nächsten Moment haut Alexa Dir KI-gestützt die nächste Landing Page für Deinen Onlineshop raus. Ach, das war 1999?
Befremdlich, wie die Zeit an einem vorbeirast. Du bummelst entschleunigt durch die Fußgängerzone zwischen addrett bebarteten Mitt-Dreissigern (oder -Zwanzigern?) mit pomadiertem Quiff-Cut, und fühlst Dich überholt von Elektroroller, TikTok, ChatGPT, GenZ und Zeitenwende. Du denkst – gerade eben war ich doch noch der Uniabgänger, drauf und dran der Berufswelt deine produktivsten Jahre anzubieten, und dann ist der CEO beim Kundenbesuch sicher 10 Jahre jünger als du und die Leute im Bus beginnen, für dich aufzustehen.
Wann ist das alles denn passiert, verdammt! Fast 40 Jahre Dornröschenschlaf im Wirtschaftswunderland und dann: BAM – Pandemie, Rohstoffkrise, Krieg, Zeitenwende.
Alles überall und auf einmal, und Du: mittendrin, genauso fehl am Platz (oder besser in der Zeit) wie Patrick Stewart und der Rest der Picard-Besetzung.
Dein Geburtsjahr ist von der Weimarer Republik ebensoweit entfernt wie von LGBTQ+. In der Diskussion um Masken und Big Pharma findest du heraus, wie die Menschen wirklich ticken, und glaubst, in einer anderen Welt aufgewachst zu sein: Kalt, polarisiert, resigniert. Und gerade als Du befürchtet hast, mit den nie enden wollenden und bestenfalls von den Transformers unterbrochenen Superheldenadaptionen wird die Filmindustrie wohl bis ins Unabsehbare vom Murmeltier gegrüßt, schiebt Disney eine entseelte Star Wars-Iteration nach der anderen in den Streaming Äther.
Mögest Du in interessanten Zeiten leben – Danke, Merkel!
Wer jetzt denkt, das habe ich doch zumindest in Teilen eben erst in einer Rezension zu Kalan gelesen, der liegt nicht ganz falsch. Aber da es sich hier eher um generelles Gedankengut als um eine konkrete Duftbetrachtung handelt, habe ich mich – nicht zuletzt auf Anraten einer lieben Community-Kollegin – entschlossen, das noch einmal an wohl passenderer Stelle zu posten.
Was hat das nun mit Parfum zu tun? Die Duft-DNA von Kalan im Speziellen, oder BR540 mit seinen zig Klonen, Instant Crush, Spirito Fiorentino und wie sie nicht alle heißen, verdichten meine Befindlichkeit inmitten der oben beschriebenen Zeitenwende.
Bei Kalan ist da ein aromatischer, ledriger, synthetischer Grundton, umspielt von fruchtigen Noten. Ja, die Blutorange ist prominent zu erkennen, sowie auch die Schärfe des Pfeffers. Bei BR540 ersetzt Zucker die
Blutorange, die dann bei Instant Crush noch synthetischer und absolut unisex, bei Spirito Fiorentino dann männlich-animalischer umgesetzt wird. Diese Kompositionen wirken auf mich unorganisch, befremdlich und – obwohl durchaus würzig – eher kalt und unnahbar. Hier ist zusammen gestellt, was nicht zusammen gehört, oder so in der Natur zusammen nicht vorkommt – außer vielleicht wenn Du sofort nach dem Reifenwechsel eine Orange überfährst - oder Zuckerwatte rauchst. Aber nicht falsch verstehen: Das Konzept in weiterem Sinne ist durchaus schlüssig und zumindest bei Kalan und BR540 handwerklich gut, sowie mit Bezug auf die Rohstoffe durchaus wertig umgesetzt. Parfum als Ausdruck duftgestalterischer Kreativität und Freiheit jenseits natürlicher Zwänge und gesellschaftlicher Konventionen. Mit salzigem Karamell hat´s ja auch geklappt. Und es klappt auch hier, denn übel riechen tun beide nicht – nur eben außerhalb der Schubladen, die mein Duftgehirn für Parfum reserviert hat. Kalan zum Beispiel ist weder würziger Orientale, noch Fougere. Hier ist nichts Sauberes oder Seifiges, nichts Cologneartig frisches oder ambriert Gourmandiges, nichts Pudriges, nichts klassisch »Parfumiges«, und doch wird der Träger als angenehm beduftet wahrgenommen.
Kalan´s Drydown schwankt zwischen leicht süß und bitter/herb, fast so, als wäre Safran enthalten; Spätestens ab hier, mit insbesondere mit etwas Abstand wahrgenommen, spielen alle oben genannten Düfte unterschiedliche nur Instrumente im selben Orchester. Die medizinisch-ledrige, bei Kalan durch den Pfeffer schon fast kratzige Grundnote ist allen gemein. Diese, nennen wir sie Safran-DNA ist derzeit nicht umsonst eine der meist-gedupten Duftkompositionen und nach 12:50 Uhr in jeder deutschen Shopping Mall praktisch omnipräsent.
Wer in der Warteschlange für die neuen Sneaker auffallen möchte, der ist mit Kalan gut bedient, da er weit genug von BR540 entfernt ist, um eigene Akzente zu setzen, und mit seiner Fruchtigkeit auch ganzjahrestauglich daherkommt. An Strahlkraft und Haltbarkeit mangelt´s praktisch keinem Vertreter dieser Duftrichtung, von einigen Klonen mal abgesehen. Kalan, Instant Crush, Spirito Fiorentino, und BR540 sind allesamt Zoomer-Powerhäuser: Kurz vor dem Büro aufgetragen, dann Nachmittags flott in die knöchelfreie Slimfit-Trainingshose geschlüpft, heimst der Helikopterpapa auch nach 8 Stunden Cheerdance-Auftritt des Töchterleins noch die anerkennenden Blicke der gleichgesinnten Männerschaft ein. So muss das.
Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass mit dieser DNA, wie übrigens auch der komplett anderen, aber ebenso ledrig-synthetischen Richtung die z.B. Ganymede einschlägt, eine Zeitenwende auch im Duftbusiness angebrochen ist, die spätere Parfumogenerationen über One Million und Sauvage ähnlich sentimental sinnieren lassen wird wie meine Generation über Kouros und Cool Water. Früher wird immer alles besser gewesen sein.
Ich muss also diese DNA lernen, oder weiterhin Sauvage tragen. Zumindest wird man mir damit bald keinen Mainstream mehr vorwerfen. Denn der wird gerade ordentlich überholt.
Im Grunde genommen stellen die „ rauchenden Schlote des Chemiewerks“, diese penetrante Synthetik, die „ Haarsprayvibes“ hervorrufen, nur die perfekte Ergänzung zu unserem klinisch sauberen, zu Tode desinfizierten post- und präpandemischen und fast schon total digitalisierten Leben dar.
Für mich selbst habe ich die Lösung gefunden, ich trete in den Widerstand. Narcisos „ Sex in a bottle“ Moschus und neuerdings auch Jasmin und Tuberosedüfte, die ich bisher mied wie der Teufel das Weihwasser, unterstützen mich dabei erfolgreich. Und extrem dichte, süsse Düfte wie Kilians LDBS, die so klebrig sind, dass man einen Lappen braucht. Es muss und soll wieder menscheln - und wenns ein Duft ist 🤗!