9. Zeichen, Teil II

Im Folgenden muss ich wieder einen längeren Semiotik-Schlenker machen, um dann letztendlich zur Frage der Duft-Zeichen zu kommen. Tatsächlich konnte ich das noch nicht alles, wie ursprünglich gedacht, in „Zeichen I“ abhandeln. Ich empfehle ein Überspringen des Schlenkers, wenn sich jemand mit Zeichentheorie halbwegs auskennt, aber  ein wenig Geduld beim Lesen, falls man den Bogen mit dem ersten Zeichen-Blogeintrag mitzudenken begonnen hat.
 
Meine erste, aus Bauchgefühl getroffene Entscheidung, ist: „Nö… Duft hat kein Zeichensystem.“ Wie bereits im Blogeintrag „Schönheit“ festgestellt, funktioniert Duft erstmal unmittelbar und nicht mittelbar mit Beteiligung der Ratio. Wenn ich aber länger nachdenke und eigene Erfahrungen meiner Duftverwendung in diese Betrachtung mit einbeziehe, kommen Zweifel auf. Vielleicht gibt es doch ein Duft-Zeichensystem?
Die nicht gegebene Mittelbarkeit widerspricht nur dem arbiträren Zeichen, nicht einer prinzipiellen Zeichenhaftigkeit. Arbitrarität (lat. für Willkür) bedeutet, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit des Zeichens und dem Wesen des Bezeichneten gibt. Das gilt generell für sprachliche Zeichen. Dass das Wort „Stuhl“ so klingt, wie es klingt, hat nichts mit dem bezeichneten Gegenstand Stuhl zu tun. Die Zuordnung, dass das eine für das andere stehen kann, ergibt sich ausschließlich aus Logik des Zeichensystems und Konvention, nicht aus einem Naturzwang, der von der Sache ausginge. Auch bei Lautmalereien, wo eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem besteht, ist die Zuordnung generell arbiträr (man spricht nur von einer anderen, relativen Motiviertheit).
Optische Zeichen sind unterschiedlich arbiträr: Vollkommen (Symbol), weniger (Index) oder gar nicht (Ikon). Die im vorigen Eintrag als Beispiel genannte Sonnenzeichnung hat eine notwendige Ähnlichkeitsbeziehung zur Sonne, sonst funktioniert sie nicht als Zeichen.

Es gibt (laut Peirce, dem ersten Grundlagensemiotiker) 3 Hauptgruppen von Zeichen, die vor allem bei der Betrachtung optischer Zeichen hilfreich sind: Symbole wirken losgelöst von optischer Ähnlichkeit als Zeichen, die Ähnlichkeit ist eine rein inhaltliche, keine natürliche, z.B. eine Taube als Zeichen für den Heiligen Geist. Die kulturelle Vereinbarung, die hinter der Zuordnung steckt ist hier entscheidend – jemand, der diesen Symbolwert von Taube nicht kennt, oder nur den für Frieden , ist nicht in der Lage, auf den heiligen Geist zu kommen.
Indizes (Hinweiszeichen) haben eine gewisse Ähnlichkeitsbeziehung zum Bezeichneten, ein Index muss physisch mit dem Bezeichneten verbunden sein. Rauch kann z.B. für Feuer stehen.  Die Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Feuer und Rauch ist eine sachliche, also liegt im Ding selbst begründet - im Zeichen angewandt benötigt sie unser Schlüsse ziehendes Denken.
Die dritte Gruppe ist die der Ikone. Das Zeichen wird dadurch zum Zeichen, dass eine sinnliche Ähnlichkeit hergestellt wird. Die gemalte Beispielsonne ist ein Ikon. Wenn genügend Ähnlichkeiten da sind (gelb, hell, strahlend, rund, Platzierung oben, Platzierung vor Blau,…), kommen wir auf das Bezeichnete. Je nachdem, wie deutlich diese Ähnlichkeitsbeziehung ist, sprechen wir von unterschiedlichem Ikonizitätsgrad.
 
So… jetzt komme ich tatsächlich näher an das Duftzeichen!
Mein erstes Beispiel ist der Duft von frisch gebackenem Brot:
 
Ich rieche diesen Geruch und denke: „Brot“. Das ist keine Assoziation. Eine Assoziation wäre es, würde ich z.B. eine Kette mit „Brot-Baguette-Frankreich-Urlaub“ bilden.
Es ist der Ikonizitätsgrad des Brotgeruchs, der automatisch eine Zeichenfunktion herstellt. Wird dieser Ikon-Charakter des Brotgeruchs, unabhängig von meiner Interpretation, als Zeichen eingesetzt? Erstmal nicht, denn Brot kann ja nicht senden. Brot hat nicht genügend Bewusstsein, um Senden zu können. Wenn allerdings Serge Lutens diesen Brotgeruch entstehen lässt, können wir getrost von einem bewussten Senden ausgehen. Aber die Zeicheninterpretation Brotgeruch = Brot ist nicht die einzige mögliche.
 
Wenn ich eine Straße entlang gehe und mir dieser Geruch in die Nase steigt, entsteht  bei mir die Idee „Aha… hier ist irgendwo eine Bäckerei“. Ich benutze den Geruch als Index-Zeichen. Diese Benutzung kann auch von der anderen, sendenden Seite ausgehen: Wenn der/die fragliche Bäcker/in nämlich das Fenster der Backstube offen stehen lässt, damit ich den Geruch auch 100 m weiter wahrnehmen kann. Wenn der Bäcker aber Serge ist, gibt es nicht die Situation mit der Straße und der Bäckerei, sondern nur den Duft auf meiner Haut. Wenn mir Brotgeruch in einem Parfüm begegnet, ist der Indexcharakter kein direkter. Den Schluss „Hier ist irgendwo eine Bäckerei“ werde ich nicht ziehen. Trotzdem kann die Idee der Bäckerei in meinem Kopf entstehen. Dieser Schluss ist bereits näher an der Assoziation, aber auch keine eigentliche. Ich assoziiere zwar, um das Zeichen zu interpretieren, aber bilde keine Assoziationskette, sondern gelange erstmal recht genau dort an, wo das Hinweiszeichen Index hinzeigt. Erst, wenn ich von dort aus mit der Assoziation weitermache, bin ich im Bereich eigentlicher Assoziation.
Das heißt: Der Indexcharakter von Duftzeichen kann eingesetzt werden, um die ersten Schritte eines Assoziierens bewusst durch Zeichenhaftigkeit zu bestimmen und zu lenken.
 
Symbolwert eines Geruchs kann nur aufgrund gesellschaftlicher Vereinbarung existieren. Mir ist kein Symbolwert von Brotgeruch bekannt. Aber denkbar ist durchaus eine verschrobene Geheimgesellschaft, die in einem geheimen Treffen ausmacht, dass der Geruch frisch gebackenen Brots für sie die bald eintretende Weltherrschaft der Baguette-Aliens symbolisiert. Wenn Serge das weiß und für diese Geheimgesellschaft einen Duft mit Brotgeruch kreiert, werden die etwas vollkommen anderes interpretieren, als ich, wenn ich das rieche. Ein Symbol-Zeichencharakter von Duft ist möglich. Und wenn wir jetzt vom absurden Baguette-Alien-Geruch weggehen und Weihrauch betrachten, wird diese Denkblase schon sehr viel greifbarer.
Weihrauch hat einen Wert als Ikon (Weihrauchduft = Weihrauch, Harz).
Weihrauchduft hat auch einen Wert als Index (Weihrauchduft = Räuchern, rituelle Verwendung)
Und: Weihrauchduft hat einen Wert als Symbol (Weihrauchduft = Kirche, Gottes Erhabenheit)
Ja nach kulturellem Hintergrund der Zeicheninterpretierenden kann das freilich auch anders aussehen: (Weihrauchduft = Orient, Allahs Erhabenheit). Katholizismus ist keine zwingende Zeicheninterpretation von Weihrauch, aber eine mitgegebene mögliche. Der Symbolwert begegnet uns nicht voll ausgeprägt und fix.
 
An diese zeichenhaft vorgegebenen Muster schließen die verschiedensten Assoziationsketten und assoziierte Gefühle an.
 
Wenn wir diese Betrachtung von Duftnoten als Zeichen weiter durchbuchstabieren, lassen sich viele, erstaunlich viele Ikon- und Indexbezüge feststellen, sogar ein paar Symbolbezüge.
(Grüne Noten bringen nicht die Assoziation von Jugend, Fruchtbarkeit, Natur mit, sondern zunächst einen Indexverweis, frische Düfte verweisen erstmal sehr zeichenhaft auf Sauberkeit, zuckrige Süße auf Kindlichkeit, voller Rosenduft auf Reife und Hochsommer, usw.).
 
Diese Zeichenpotenz ist natürlich den Künstlerinnen und Künstlern, die mit Duft arbeiten bewusst. Sie wird eingesetzt. Das Abstrakte der Zeichenhaftigkeit bedingt, dass Rezeption und Analyse eine gewisse Ungenauigkeit und eine hohe Subjektivität mitbringen. Das ändert aber im Umkehrschluss nichts an der zeichenhaften Verwendung.
 
Diese lange Ausführung zur Duftsemiotik hat ein paar Gedanken gebracht, die ich festhalten möchte, bevor ich zum nächsten Thema denke:
 
-> Duftzeichen sind nicht arbiträr. Ihre Naturähnlichkeit ist sachlich vorgegeben und ihre Wahrnehmung geschieht zunächst unmittelbar.
-> Duftzeichen lassen sich beschreiben als Ikon, Index oder Symbol.
-> Oft verwenden wir beim Sprechen/Schreiben über Duft das Wort „Assoziation“, während vielmehr eine Zeichenfunktion zutrifft.
-> Die Zeichenhaftigkeit ist Mittel der Ausdrucksschaffung.
-> Das Parfumerie-Zeichensystem unterliegt komplexen, nicht per se fixen Regeln.

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Notiz: NEC hat tatsächlich inzwischen einen gewissen Symbolwert. *g*

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