Naturalismus und Abstraktion

Bei der Frage, welche Begriffe aus anderen Kunstwissenschaften auf eine Ästhetik der Parfumerie tauglich zu übertragen sind und sich dadurch für eine Verwendung bei der abenteuerlichen Neulanderschließung empfehlen, kommt man recht direkt und zwangsläufig bei Naturalismus und Abstraktion an.

Völlig evident, selbstverständlich und simpel-logisch bieten sich diese beiden Pole der Darstellungsweise an: Natur und Natürlichkeit, beziehungsweise deren Darstellung sind zentral wichtige Eigenschaften von Parfum, vielleicht die zentralen.

Die klassischen, vormodernen Duftnoten waren allesamt natürlicher Herkunft und natürlicher Anmutung. In der Komposition mit diesen Ingredienzien stellte sich dennoch an den Parfumeur/die Parfumeurin von selbst die Frage, wie naturalistisch diese eingesetzt werden: stark oder schwach wieder erkennbar, gemischt, einzeln stehend, überblendet, an einen Natureindruck direkt, indirekt oder gar nicht erinnernd, usw.

Mit der Moderne und der Möglichkeit der Synthese potenziert sich dieses Fragethema in eine gewaltige Dimension: Wird eine Note bei der chemischen Konstruktion am natürlichen Beispiel angelehnt oder wird sie völlig eigenständig, ohne Vergleichseindruck geschaffen? Welche Nuancen lassen sich entwickeln, die graduell wie weit von einem Naturvorbild weg führen? Welche Naturzuschreibungen werden unwillkürlich auf eine neue Duftkomponente projiziert, obwohl diese kein Vorbild hatte, als sie entworfen wurde? Und dann erst die Fragen der Inszenierung: Wie ist das Verhältnis zwischen Wiedererkennbarkeit und Vergleichslosigkeit in einem Duft? Und, eine erstmal paradox anmutende, aber ungeahnt spannende künstlerische Möglichkeit: Wie naturalistisch sind synthetische Noten verwendet, bzw. wie abstrakt kommen natürliche zum Einsatz?

Ein weites Feld!

Hier zunächst ein Hinweis für Leser/innen, die nicht unfraglich vertraut mit den Begriffen Naturalismus und Abstraktion umgehen: „Natur“/„Natürlichkeit“ und „Naturalismus“ sind keineswegs dasselbe, müssen sogar dringend differenziert werden beim Sprechen über Kunst. Ein Beispiel, das es anschaulich macht: Wenn ein Impressionist einen Baum malte, gab er sich nicht Mühe, diesen fotografisch zu erfassen. Die einzelnen Blätter und ihre Maserung waren ihm wurscht, genauso wie das fisselig-genaue Nachzeichen des einen oder anderen Zweiges. Es ging um Licht, Farbe,Luftbewegung und Veränderung. Das Endergebnis ging sehr weit weg von Naturalismus – aber unser Beispielimpressionist war der Überzeugung, dass seine Abbildung im höchsten Maß der Natur der Sache entsprach. Hier war das Naturgemäße nach den Regeln natürlicher Echtheit und Wahrheit umgesetzt. Dieser Baum ist in seiner Natürlichkeit gemalt, aber nicht naturalistisch.

Manchmal ist Naturalismus ein Weg weg von der Natur und Abstraktion ein Weg hin zu ihr.

Ein Beispielexpressionist, der ein paar Jahre später den selben Beispielbaum gemalt hätte, wäre der festen Überzeugung gewesen, dass der Natur des Baumes durch die impressionistische Darstellung überhaupt nicht entsprochen würde, weil sie ausschließlich nach den Gesetzen des Sehens in einem rein optisch begriffenen Natur-Welt-Bild funktionierte. Er hätte den impressionistischen Baum als ziemlich naturalistisch bezeichnet und sich Mühe gegeben, auch andere Sinneseindrücke malerisch einzufangen: Wie fühlt sich der Baum an, wie riecht/schmeckt er und wie klingt er? Und, noch viel wichtiger, wäre dazu gekommen: Was bedeutet er für menschliche Betrachtende? DAS wäre, nach der expressionistischen Auffassung, der Natur des Baumes viel näher gekommen. Seine Baumdarstellung wäre aber überhaupt nicht naturalistisch ausgefallen, bestimmt noch bedeutend weniger als die impressionistische.

Es gibt aber auch Abstraktion, die sich überhaupt nicht versteht als „Weg zur Natur“ im Sinne von „Weg zur wahren, eigentlichen Natur“, sondern wirklich und wahrhaftig eine Abkehr vom Natürlichen sein will. Hier geht es um die Kultürlichkeit einer Sache. Ihr dient die Darstellung. Eine Farbe kann beispielsweise sein, ohne einen Grund haben zu müssen, ohne einen Anlass, sein zu dürfen: Man kann ein Grün auch auf Leinwand bringen, ohne das Blatt eines Baumes dafür zu brauchen. Wenn es einfach nur um dieses Grün geht, ist es sogar hinderlich, irgendwas Baumartiges mit abzubilden, weil es das Grün in einer Reallogik verankern würde, die eine Begrenzung und Relativierung bedeutet. Um es zu „befreien“ muss der Baum weg.

Dieses Beispiel aus der Malerei soll für die vielen, vielen Arten von künstlerischem Ausdruck dienen, die sich (immer notwendig) mit dem Spannungsfeld Naturalismus-Abstraktion auseinandersetzen: In der Skulptur, der Architektur, der Musik, der Literatur, dem Tanz, dem Film … und eben auch der Parfumerie.

Wenn uns in der Parfumerie eine Duftnote begegnet, gibt es gleich zwei Instanzen der Naturalistisch/Abstrakt-Fragestellung:

  1. Wie naturalistisch oder abstrakt ist diese Note/dieser Akkord an sich?
  2. Wie naturalistisch oder abstrakt wird sie im konkreten Parfum verwendet?

Wenn ich zum Beispiel Keiko Mecheris „Mulholland“ rieche, erkenne ich unzweifelhaft hesperidische Noten. Zitrone, Bergamotte, Orange, Mandarine, Grapefruit und keine Ahnung, was noch alles, sind zu einem Hesperiden-Akkord gefügt. Wenn ich fragende Aufmerksamkeit auf diesen Akkord richte, komme ich mit ziemlicher Sicherheit zu dem Schluss, dass hier natürliche Bestandteile verwendet wurden. Irgendwas, das mit echten, natürlichen Zitronenbäumen, Bergamotteschalen und so weiter zu tun haben muss (selbst, wenn ich mich hier radikal täuschen sollte, ist zumindest sicher, dass diese Noten sehr natürlich anmuten und das es völlige Absicht ist, diesen Eindruck zu erzeugen). Wenn ich aber die Wirkung in der Komposition des Gesamtdufts beschreiben will, komme ich ganz und gar nicht beim natürlichen Zitrushain im Sonnenschein an, sondern stelle fest, dass dieser Duft ganz klar einer künstlichen Inszenierung dieser natürlichen Noten gewidmet ist. Also null naturalistisch!

Ich komme nicht für eine halbe Sekunde zu einer Verwechslung mit einem natürlichen Szenario. „Mulholland“ riecht modern, urban, synthetisch. Übertragen: Gerade Linien, geometrische Formen und im ersten Moment „fremd“ anmutende Farben, begleitet von einem Beat, der nicht dem menschlichen Herzschlag entspricht. Absolut abstrakt! Abstraktion mit einem natürlichen Material. Noten, die für sich naturalistisch sind, aber abstrakt inszeniert werden. Genau DAS ist das Spannungsfeld dieses Duftes, genau das macht ihn interessant und riechenswert. Wow!

„Mulholland“ ist wiederum nur ein Beispiel. Ich nenne es hier, um exemplarisch zu zeigen, wie Gewinn bringend die Frage nach Naturalismus und Abstraktion bei Beschäftigung mit olfaktorischer Kunst ist.

Wie viel Gewinn steckt darin, sie auf JC Ellena-Düfte anzuwenden! Da sind lauter ganz unglaublich klare Einzelnoten von allerhöchster natürlicher Wiedererkennbarkeit quasi neben einander gestellt und entwickeln in diesem Nebeneinander vielfältige Bezüge und ein Gesamtes. Diese Bezüge funktionieren abstrakt. Wozu, wohin? Um etwas Naturalistisches oder am Ende vollkommen Abstraktes zu erzeugen? Ich denke, dass Ellena exakt dieses Spektrum benutzt, um Spannung zu erzeugen, dass er sich genau in diesem Feld bewegt.

Die Rose, die mir in „Lumiere Noire pour Homme“ von Francis Kurkdjian begegnete, konnte ich erstmal gar nicht als „Rose“ ausmachen, weil sie mir so fremd und anders vorkam, als ich Rosennoten bisher kennen gelernt hatte. Zweifelsohne ist es aber „Rose“... und zwar eine charakteristische und superdeutliche. Ich habe den Verdacht, dass Rosen-Noten klassisch prädestiniert sind für eine naturalistische Inszenierung und dass der LNpH-Umgang damit zu einer abstrakte Auffassung von „Rose“ hin verweist… weshalb ich zuerst so verwirrt und angezogen befremdet war.

Weitere, meiner Meinung nach richtig enormen Gewinn bringende, Fragen an Naturalismus und Abstraktion in Parfum:

  • Wie sehr kann Spannung und künstlerischer Reiz entstehen bei der Verwendung von körperlich anmutenden „Naturnoten“, nämlich bei stark animalischen? Zibet und Castroreum öffnen das Spektrum am äußersten, extremen Ende. Wie weit folgt die jeweilige Inszenierung der natürlichen Vorgabe (naturalistisch) und wie weit widerspricht sie ihr (abstrakt)?
  • Wie naturgemäß darf eine Moschusnote wirken (Musc Ravageur) und wie abstrakt kann sie eingesetzt werden (stark synthetisch wirkende weiße Moschusnoten)?
  • Patchouli…! Noch so eine Note, die eine ungeheure Spannbreite mitbringt! Patchouli kann einem ganzen Duft den entscheidenden naturalistischen Kick geben. Patchouli zu zügeln, in Grenzen zu halten und dem Einhalt zu gebieten, ist eine ordentliche parfumistische Herausforderung, die bisweilen große Ergebnisse bringt.
  • Wie naturalistisch wirkt eine Blumenkombo? Gerade Blütendüfte schreien geradezu nach einer möglichst naturalistischen Interpretation. Wie weit entspricht der Duftkünstler/die Duftkünstlerin diesem Appell? Auch eine spannende Frage: Warum und wie tun Blumennoten das eigentlich?
  • Wo wird durch den Namen eines Parfums bereits ein Deutungsspielraum in diesem Naturalismus-Abstraktions-Feld aufgemacht: Garten, Fluss, Stadt, Tag, Nacht, Himmel, Farbe…?
  • Welche synthetischen Noten sind vollkommen bewusst abstrakt funktionierend und werden gewollt so eingesetzt? Welche natürlichen Noten wirken naturalistisch und welche abstrakt? Und durch welche natürliche Eigenart oder kultürliche künstlerische Entscheidung tun sie das?
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Fragen über Fragen.

Gewinn bringende.

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