Reiser

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Rezensionen
Reiser vor 4 Jahren 62 22
10
Flakon
9
Sillage
9
Haltbarkeit
10
Duft
Der Duft der weißen Stadt
Die frühen 80er verbrachte Herr Reiser als Student in Paris. Das Coming out war zum Ende der 70er in der Heimat absolviert worden. Nun war ganz viel Horizont, und dafür stand Paris ein. Die Zukunft ein weißes Blatt, das wir möglichst lang und schön beschreiben würden. So hofften wir. Weiß war auch die Stadt damals. Weiße Hosen und laute Hemden, die Uniform auf Boulevard und Campus. Wir hätten sie gern bei Saint Laurent gekauft, der die schönsten machte, konnten uns das aber nicht leisten. Wir schauten sie uns in seinem Store nur an. Der war weiß eingerichtet. Und mit Kouros beduftet. Auf der weißen Kundentoilette die milchweiße Kourosseife. YSL war einer unserer Helden. Er hatte sich schon in den 70ern nackig gemacht, als uns noch die Scham der Provinz regierte. Nun lebten wir in seiner die große Freiheit versprechenden Stadt und konnten ihn leibhaftig sehen. Theoretisch. Ich habe ihn nie gesehen, im La Coupole war er immer gerade weg oder würde ganz bald kommen. Bestimmt. Sagten sie. Er kam nie. Aber wir hatten Kouros, seinen Duft, von dem Luca Turin in seinem „Kleinen Buch der großen Parfums“ später schreiben wird, er rieche "wie die gebräunte Haut eines Kerls mit Pomade im Haar, der gerade aus der Dusche tritt". Wie sollte der uns nicht gefallen? Saint Laurent ließ Plakate hängen, auf denen der flache, marmorweiße Flakon, der archaischen Jünglingsplastiken nachempfunden war, vor blauem Himmel neben einen unfassbar perfekten nackten Mann rückte. Der Duft war so schockierend laut wie unsere Hemden und Clubs, die damals noch Discos hießen. Schmutzig und vollgepackt mit Aromen wie diese Hemden am Ende einer viel zu langen Partynacht voller Kontrollverlust. Laut und schmutzig fanden wir gut; und wir hatten auch nichts gegen die Pariser „tearooms“, die Pissoirs, mit denen man unseren Duft rasch in Verbindung brachte. Kouros roch wie unsere Nächte, Räusche und Eskapaden. Er stand nicht als ein definiertes Aroma im Raum, er war das gusseiserne Gefäß vieler an sich komplett unverträglicher Aromen, die plötzlich derart passend und überwältigend zusammenkamen, als könnte es gar nicht anders sein. Kräuter, die Sekrete von Tier und Mensch, Hölzer, Chemikalien wie aus Reinigungsmitteln, Campari, der dominante Koriander, den eigentlich alle Parfums der 80er auffuhren. Sehr stechende grüne Noten. Etwas müffelnd Aquatisches. Und zugleich eine ganz eigenartige Süße, die vielleicht dem Honig geschuldet war. Wir lernten, dass die animalische Puffnote, die am längsten hängen blieb, Zibet genannt wurde. Wir entschieden uns, Kouros für ein sexuelles Parfum zu halten. Ein Duft als Wette auf die Zukunft. Die Reaktionen der Leute in Bus und Metro bestätigten uns darin, dass die Sillage stark und unser Duft nicht deren Duft war. So wollten wir es haben. Nachts, in unseren Bars und Discos, roch wirklich ganz Paris nach Kouros. So will es wenigstens meine Erinnerung. Und als schmale Jungs waren wir selbst einem Kouros wohl niemals näher als in diesen Tagen. Kouros knüpfte ein dauerhaftes Band zwischen uns. Im Hörsaal erkannten wir einander, wenn wir diesen Geruch wahrnahmen. Wir trugen ihn wie die Signaltücher in der Jeans. Das ist der Zauber, den ein Duft haben kann: er stiftet stabile Verbindungen zu Orten, Zeiten, Menschen. Und wie auch immer sich der Duft in den folgenden Jahrzehnten veränderte, er blieb bei uns, als das weiße Blatt allmählich beschrieben wurde. Ganz anders, als wir gedacht hatten. Ein Virus kam und leerte die Bars und Discos. Die Leute wechselten von der Tanzfläche ins Krankenbett. Es ging so schnell, dass wir gar nicht verstanden, was mit unserer Welt passierte. Nun schmuggelten wir statt Blumen Kouros auf die Aids-Stationen, damit unsere Freunde wenigstens den vertrauten Duft nicht entbehren mussten. Und das Band hielt, bis zum Schluss. Über den immer häufiger werdenden Trauergesellschaften lag eine federleichte Kouros-Wolke, die davon zeugte, dass wir unsere wilden Jahre nicht bedauerten, sondern betrauerten. Die davon zeugte, dass wir uns als Gemeinschaft begriffen. Irgendwann hatten die meisten, die überlebten, Paris verlassen. Kouros wurde schwächer, aber das war in Ordnung, wir wurden es ja auch. Das Zibet-Aroma wird jetzt aus Algen gewonnen. Ich habe nichts dagegen. Hauptsache, ich erkenne den Duft noch wieder. Und wenn wir uns heute treffen, hier in Berlin oder anderswo, allesamt Herren um und über sechzig, Longtime-Survivors oder einfach Glückspilze, dann hat mindestens einer Kouros aufgelegt, als sentimentale Erinnerung an unsere weiße Stadt und die lauten schönen Jahre. Wir tragen Kouros nicht mehr oft, aber wenn – dann wissen wir, warum wir es tragen. Und manchmal genügt es, nur den marmorweißen Flakon in die Hand zu nehmen.
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