Kovex
06.12.2022 - 12:47 Uhr
37
Top Rezension
7
Preis
6
Flakon
8
Sillage
7
Haltbarkeit
10
Duft

Ich bin kein Blindkäufer

Ich bin doch Betriebswirt, kühler Stratege, eiskalter Kalkulierer, der spitze Bleistift mein Werkzeug, berechnend, abwägend und folgerichtig entscheidend. Alles Eigenschaften, die ich in der Parfümwelt über den Haufen werfe. Habe ich was gesagt?

Die Parfümbranche scheint Eigenschaften in mir hervorzurufen, die mich an meinem Verstand zweifeln lassen. Die Ankündigung, dass Düfte eingestellt werden, Reformulierungsängste, der letzte verfügbare Vintageduft, limitierte Auflagen. Alles Themen, die mich triggern, unvernünftig sein lassen, vorschnelle Entscheidungen treffen lassen. Ich hasse mich dafür. Aber doch: sie schaffen es immer wieder. Jaja, ich weiß: das limbische System. Die Fernsteuerung unserer Gefühle. Zwecklos dagegen anzukämpfen. Bin ich also entschuldigt? Auf jeden Fall!

Ich mag Kunst. Ich mag Künstler. Antonio Gardoni ist einer. Studierter Architekt, spezialisiert auf Innenarchitektur, Grafik- und Produktdesigner mit namhaften Kunden wie Nike, Redbull, Google und so weiter. Der muss was können. Und dann noch eine eigene Parfüm-Marke. Passt das? Und wie, der kann was.

Sein wunderbarer Duft Maai öffnete mir die Türen zu den blumigen Düften, dem Anderen, schräg sein ausdrücklich erwünscht. Ich könnte mich darin suhlen.

Und dann die Ankündigung eines neuen Duftes in einer auf 500 Stück limitierten Auflage. Wieder prall gefüllt mit Duftnoten bei denen es schwer fällt sich das Ergebnis vorzustellen. Ist das das Risiko eines Blindkaufs wert? Was? Schon vergriffen? Geht gar nicht. Such, stöber, find. Nur noch einer verfügbar? Bestellbutton gedrückt, schneller als die Seite die Bilder nachladen konnte. Da hatten sie mich wieder.

10 eröffnet herrlich bitter zitrisch. Keine Frucht, nur der Abrieb der Schale, die Destillation der Zweige, Blätter und Fruchtansätze, unreif, grün, belebend und erfrischend. So wird der Frühling eingeläutet. Das hält erstaunlich lange, hat Ausdruckskraft, ich kann nicht genug davon bekommen, noch zumal die Feige eine kleine Nebenrolle spielt oder das Feigenblatt, die Feigenmilch, egal, grüner Feige kann ich nicht widerstehen. Woher wusste er bei der Namensgebung, dass ich ihm 10 Punkte geben würde? Also auch noch ein Hellseher.

Nach ca. 30 Minuten mogeln sich florale Töne dazu, unmöglich auszumachen, wer hier wem die Schau stiehlt, Duftnoten runterbeten zwecklos. Das Gesamtergebnis zählt. Es wird weicher, sanfter, die Bitterkeit der ersten Minuten löst sich sachte auf, verschmilzt auf der Haut. Es bleibt konsequent unsüß, das Paradebeispiel eines Unisex-Duftes. Allenfalls die Puderwölkchen im späteren Verlauf verschieben die Akzente von herb zu lieblich und könnten den Anschein von etwas Süßlichem erwecken.

Was Animalik betrifft bin ich unerschrocken. Hier kann ich die Angst nehmen. Das Zibetkätzchen schnurrt nur ein bisschen, gerade so viel um den Duft einen verwegenen kleinen Schubser zu geben. Auch Weihrauch-Verächter kann ich beruhigen. Der Weihrauch hier lüftet alles nur ein wenig, steuert ein bisschen Kante bei. So macht man Düfte. Nicht plakative sondern subtile Kunst. Das Meisterliche eines van Gogh erkennt man auch erst, wenn man ganz nah ran geht.

Wie man lesen kann, soll der Duft 10 nur eine Zwischenstation sein zu einem endgültigen Duft der 2023 erscheinen soll, quasi eine Teilhabe am dem Projekt, was noch gar nicht zu Ende ist.
Fast möchte man ihm zurufen: „Stop! Hör auf, besser kann es nicht mehr werden!“ Und schon bin ich wieder angetriggert. Ob ich in 2023 auch wieder blind kaufen werde? Ach komm, im Frühjahr kommt doch die steuerfreie Inflations-Ausgleichs-Pauschale, damit hat ja auch keiner gerechnet.
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