Nuit de Noël 1922 Parfum

Jumi
26.10.2018 - 17:09 Uhr
34
Top Rezension
7
Sillage
9
Haltbarkeit
8
Duft

Der Plattenspieler

“Gib mir die Hand!” Die Kleine zog die noch Kleinere hoch, half ihr hinauf, schaute von oben verstohlen in den Hof herunter, ob die Mutter auch nichts sieht, und schloss das Dachbodentürchen. Gescholten hat die Mutter immer, wenn die Kleine die alte quietschige Leiter hoch kletterte. Und besonders, wenn sie die noch Kleinere im Schlepptau hatte... Doch zog sie der alte Dachboden, geheimnisvoll, erinnerungsreich und schatzkammergleich, wie ein Magnet. Den vorderen Teil hatten sie bereits erkundigt, jetzt drängten sie sich weiter zwischen den Kartons, gross und klein, alt und älter.

In einer dieser Kisten, hinter der antiken Stehlampe aus Messing, hatten sie ES zufällig entdeckt. Ein Grammophon wäre das, meinte die Kleine alleswisserisch. Bloss wäre es wahrscheinlich kaputt, weil ihm das lange 'Sprechdings' fehlte. Man konnte damit früher Musik abspielen. Eine der alten Schallplatten aus der gleichen Kiste wurde rausgeholt, die Nadel auf die Platte gelegt. Und – nichts. “Was nun?” Die Kleinere war ungeduldig. Die Stirn gerunzelt, beschloss die Kleine das Konzert per Hand zu starten. Gedreht von ihren Fingerchen bewegte sich die Platte immer schneller und quietschte, winselte und jaulte unter Nadelkratzern. Die Kleinen kicherten vergnügt und niessten hin und wieder vom aufgewirbelten Staub. Da war sie plötzlich. Kurz und weg. Und wieder da. Ganz leise Stimme. Sie schauten sich erschrocken an und um. “Es ist das Grammoding, es funktioniert!” meinte die Kleine und begann die Platte wieder zu drehen. Und dann, hinter dem Jaulen und dem Winseln, war ein leiser Männer-Tenor zu hören. Wovon er sang, konnten sie nicht verstehen. Dennoch neigten sie die Köpfe über der Platte, hielten den Atem an und hörten den langatmig gezogenen Tönen zu. Staub tanzte langsam im sich durchs kleine Dachfenster drängenden Sonnenstrahl, sank auf das Holz des Bodens und das Lampen-Messing, schob die Dachbalken auseinander und liess die Kleinen inmitten eines grossen Saals, blumenbeschmückt, goldbeleuchtet und musikbeschallt, irgendwo im 'Once upon a time' vor sich hin träumen.

Lang ist es her. Jetzt wissen ich und meine Schwester (lange nicht mehr 4 und 8), dass es bloss ein alter Plattenspieler war und eine von uns unwiderruflich zerkratzte Platte, die uns mit dem sanften Männer-Tenor überraschte und auf die “Zeitreise” schickte. Ich schätze Düfte, die dasselbe schaffen. Nun kenne ich Nuit de Noël noch gar nicht lange, gerade mal seit zwei Jahren. Trage ihn gerne mal für mich allein, zu Hause, wenn ich “reisebereit” bin. Dann katapultiert er mich sofort zurück, auf den alten Dachboden. Legt einen klassischen, damals üblichen, etwas kratzigen Aldehyd-Start hin, wirbelt dabei ganz viel Irisstaub auf, glänzt messingmatt-metallisch-nelkenwürzig, entblösst sein moosbewachsenes altes Holz. Wirkt weder furcheinflössend chyprig noch todernst seifig. Dazwischen singt das Blumenherz, zieht lange Töne, spricht ne alte Sprache. Ylang und Sandel – der Tenor und die Musik – ein altbewährtes, exotisch-klassisches Duett mit immer noch wirkendem Zauber. Hat in 'Samsara' schon funktioniert und noch mehr in 'Bois des Iles'. Hier auch. Als stünde man plötzlich inmitten eines grossen Saals, blumenbeschmückt, musikbeschallt, von Kronleuchtern in warmsüsses goldencremiges Licht getaucht. Vanilleglücklich... nicht wie frischer junger Pudding, sondern auf die alte, fast “Guerlainsche” Art, seriös, erwachsen. Und etwas aus der Zeit gefallen, mit jenem Zauber von 'Once upon a time'.

P.S. Das einzige was den Duft für mich mit Weihnachten verbinden könnte, wäre wohl der Karton mit dem Christbaumschmuck, auf den sich meine 4-jährige Schwester mit Schmackes gesetzt hat.
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