Skyliner
27.09.2010 - 14:04 Uhr
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Top Rezension

Das Aas

Etat Libre d‘Orange macht sich offensichtlich einen Riesenpaß daraus, bei der Taufe seiner Parfums, derbe, draufgängerische Namen auszuwählen um die geneigte Käuferschaft erst ein mal zu verschrecken. Aber mit „Charogne“ hat sich das Haus in dieser Hinsicht mal wieder selber überboten. Was im Französischen so wohlklingend daher kommt, klingt, wenn es ins Deutsche übersetzt wird, nicht gerade zimperlich und zu Recht abstoßend. Charogne bedeutet nämlich nichts anderes als Aas!

Doch auch hier gilt immer noch der bewährte Grundsatz: Keine Suppe wird so heiss ausgelöffelt, wie sie gekocht wird. Und tatsächlich, bei diesem Duft hatte Etat Libre d‘Orange nichts anderes vor Augen als eine selbstbewusste Frau auf dem Höhepunkt ihrer Weiblichkeit, gleich einer reifen, verführerischen Frucht, die nur darauf wartet, in genau dem richtigen Moment, gepflückt zu werden. Man darf also aufatmen, geht es doch um die Kunst der Verführung.

Eine Provokation, ein Affront? Nein, eigentlich nicht. „Charogne“ versucht penibel und minutiös die Grenzen auszuloten zwischen Verwesung einerseits und voller Reife andererseits. Wie weit darf man gehen bevor ein Duft ins Unerträgliche abdriftet? Das war die anfängliche Fragestellung und zugleich die Herausforderung. Dabei bedient man sich bei „Charogne“ erlesener Blüten, weiß und betörend. In diesem Fall ist es der chemische Duftstoff Indol, Bestandteil des natürlichen Duftöls des Jasmins, der, richtig dosiert, dem Parfum eine sehr charakteristische, animalische Note verleiht.

Das Ganze könnte sehr schnell sehr unappetitlich werden, aber bei „Charogne“ scheint die Balance zwischen zu viel und zu wenig recht ausgewogen. Die animalische Duftnote ist sehr wohl präsent und dominant, aber immer noch sehr angenehm, so dass man schlussendlich einfach von einem floralen vanilligen Duft reden könnte. Könnte! Aber „Charogne“ geht einen noch einen bemerkenswerten Schritt weiter ...

In dieser ersten Zusammenarbeit mit Etat Libre d‘Orange, zelebriert uns Shyamala Maisondieu, die Nase hinter dem Duft, ein ziemlich erstaunliches Kunststück und bleibt dem prägnanten, bewusst synthetischen des Stil des Hauses absolut treu, fügt ihm aber dann das ganz eigene Portrait eines voll erblühten Jasmins, der gerade anfängt zu verwelken, hinzu.

Der erste Eindruck, den der Duft hinterlässt erinnert an rosa Kaugummi, an ein Collier aus aufgefädelten Bonbons. Dazu gesellt sich, bedingt durch die Konzentration von Jasmin, ein schleichender dunkler Schatten, den man als störend empfinden vermag. Verstärkt wird dieser Eindruck noch ein mal durch die Tiefe Süße einer Lilie und von Ylang-Ylang, dieser atemberaubend duftenden exotischen Büte. Das alles verschmilzt mit den Bonbons zu einer Einheit. Die Wirkung ist zwar familiär, vertraut und doch sehr fremdartig. Aus gutem Grund! Zusätzliche balsamische Noten wie Vanille malen das Bild einer abstrakten Blume im Moment da sie ihren letzten Duft, gleichsam ihr Leben aushaucht: die exzessive Süße, die opulente letzte Prachtentfaltung gibt dem Duft eine sehr besondere überirdische Note. Die wahrhaft berauschenden Dämpfe erinnern entfernt Benzin. „Charogne“ ist süß wie überreife Früchte.

Doch soll man sich nicht täuschen lassen: Dieses ganze Spiel mit den verschiedenen Facetten ist in Wirklichkeit ein sehr subtiles Ausbalancieren. Sozusagen ein kleines Augenzwinkern des Parfumeurs, das den Parfumliebhaber, den meisterlichen Umgang mit den Ingredenzien erkennen läßt.
Epilog:

Was für ein gewaltiger Unterschied zu dem gesteten „Aqua di gioia“, welches so klapperdürr, schmalbrüstig daherkommt und schon nach kürzester Zeit, noch ehe die Blume überhaupt zu erblühen wagt, sich mit einem letzten Hüsteln, unter Schwindsucht leidend, dahinscheidet. Möge es in Frieden ruhen!
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