Mémoire d'une Odeur 2019

AlterHerr
05.08.2021 - 22:35 Uhr
74
Top Rezension
8
Preis
10
Flakon
8
Sillage
9
Haltbarkeit
9.5
Duft

Der Herbstzeitlose

Ein merkwürdiger Sommer zieht vorbei. Pandemie und Klimawandel haben das Reisen zu einem zunehmend ambivalenten Erlebnis werden lassen, der stets erhobene Zeigefinger der Enkelkinder mahnt zum Verzicht. Und verdammt - sie haben ja auch recht.

Mein biografischer CO2 Fußabdruck ist beschämend.

Dann kam das Wasser. Ja, ich wohne im Hochwassergebiet, und alleine hätte ich den vollgelaufenen Keller kaum leer bekommen. Danke an die jungen Helfer.

Ich kann nicht zum Alltag übergehen, selbst wenn ich persönlich noch vergleichsweise glimpflich davon gekommen bin. Angehörige, Freunde, Nachbarn und Bekannte sind oft stärker betroffen. Manch einer, der gestern noch privilegiert war, der wohnt jetzt im Gästezimmer eines Freundes. Mit Ü70 fällt der Gedanke an einen Neuanfang nicht leicht. Und dennoch spüren viele - auch meiner Generation - die Notwendigkeit einer Zäsur.

Den Wagen hat es durchgespült, also werde ich erst gar keinen Neuen mehr anschaffen.
Ich hatte ja ohnehin nicht vor, als einer derjenigen Rentner zu enden, die im irrtümlich eingelegten Rückwärtsgang den örtlichen Marktplatz zum Drive-In umzufunktionieren gedenken.

Und erst im Augenblick der Zerstörung spüre ich, dass ich zu lange blind für die üppige Schönheit meiner Heimat geblieben bin. Was gibt es hier nicht für herrliche Ecken und Kleinode?
Erinnerungen an wundervolle und einprägsame Momente meines Lebens...

Nun ist dies hier kein Senioren-, sondern ein Parfumforum, und der vorliegende Gucci-Duft heisst übersetzt folgerichtig auch nicht Erinnerung an den Abschlußball, sondern Mémoire d'une Odeur.
Nicht weniger vermag er auch.

Er erinnert mich daran, wie ich als Lausbube in kurzen Hosen mit meinen Freunden durch die Wäldchen meiner Heimat streifte. Immer auf der Suche nach Abenteuern oder Material zum Dammbau. Die nassen Blätter, der weiche Boden, Regen, Moose, eine Schnecke, ein Regenwurm, ein Bach, welcher sich sanft einen Hang entlang schlängelte, Sonnenstrahlen, die verstohlen durch die Bäume blitzten, den Rost an einem alten Metallfass - selbst das Anorganische wirkte in einer solchen Umgebung organisch.

Die Nesseln brannten, weil dies nunmal die Aufgabe einer Nessel ist, der Pullover kratzte, und ein Holzsplitter verirrte sich dann und wann in einem Finger. Und ich strotzte voller Leben, das mich umgab.
Ich rieche hier mehr als nur einen öden Beuteltee, vielmehr nehme ich die Kamillen als Wildblumen am Feldwegrande wahr, samt der sie umgebenden Erde.

Dieses Eau de Parfum ist der Gegenentwurf zum Instagram Zeitalter. Nicht laut, bunt und knallig.
Stattdessen herb und doch vertraut. Kein Synthetikgourmand, welcher mit klebriger Süße Jedem zu gefallen versucht. Und gerade das macht ihn so authentisch.
Seine Duftnoten bilden die Nuancen und Facetten des Lebens weit trefflicher dar, als diese furchtbaren Zimtpuddingbomben. Ich hätte ehrlicherweise gerade Gucci ein solches Anti Mainstream Statement kaum zugetraut.

Ganz nebenbei wartet Mémoire d'une Odeur mit dem - zumindest für mich persönlich - inzwischen optisch ästhetischsten Flakon meiner Sammlung auf. Eleganter kann sich ein Duft kaum kleiden.
Ich kann den Herbstbeginn kaum erwarten. Ich möchte in meine Schuhe schlüpfen, und in Pfützen springen. Möchte hören, wie der Dreck an meine Hose geschleudert wird. Möchte mich herab beugen, und noch einmal eine Ameise minutenlang bei ihrer emsigen Arbeit bewundern.

All das Gute war die ganze Zeit so nah.
Danke Señor Morillas, dass sie mich daran erinnert haben...
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