Bel Ami 1986 Eau de Toilette

Ponticus
16.11.2023 - 04:42 Uhr
85
Top Rezension
7
Preis
7
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
8.5
Duft

Lederhosenkinder

Ich gehöre zur der Generation der Baby-Boomer mit der landläufig die Geburtenjahrgänge in etwa von 1950 bis 1970 benannt werden. Als solcher litt ich nie Mangel an Spielkameraden, durfte in chaotischen, schülerstarken Klassen lernen, war bei Bewerbungen, Prüfungen oder Anmeldungen nie allein und bei fast jedweden Kaufabsichten war die Warteschlange unvermeidbarer Begleiter. Es war immer und überall voll und immer und überall war etwas los, man war nie allein, selten einsam, hatte echte Freunde und reale Feinde. Ein Leben direkt zum anfassen, welches sich hauptsächlich draußen abspielte.

Für diese Abenteuer in der freien Natur besaß damals fast jedes Kind eine kurze Lederhose! Neu und zu Anfang einige Nummern zu groß, noch mit Trägern dran und Brustportmonnaie, wuchs ein Jeder mit der Zeit in seine Hose hinein um dann, nach etlichen Jahren, jetzt hauteng, die ersten pubertären Veränderungen eher zu verstärken als zu verbergen. Alle Jungs in unserer ländlich geprägten Gegend trugen sie von März bis November so lange es die Temperaturen zuließen und auch einige Mädchen waren mit dabei. Diese Hosen gingen nie kaputt, wurden nie dreckig und folglich auch nicht gewaschen und waren Aufbewahrungsort für alles was man den lieben langen Tag draußen brauchte oder fand. Eine zweite neue Lederhose gab es meistens nicht, war man der ersten erstmal entwachsen. Oft wurde sie aber weitergegeben an den Bruder, Freund oder den, der eine suchte. Niemals wurde sie weggeworfen, lieber eingelagert um eines Tages den eigenen Kindern ebenfalls gute Dienste zu leisten.

Als vor vielen Jahren meine liebe Oma starb, fand ich die Meinige in einem Pappkarton in ihrer Abstellkammer. Meine Kinder waren schon zu groß dafür, aber sie hätten sie sowieso nicht angezogen, auch keine Neue. Kürzlich fand ich sie erneut wieder, meine alte Lederhose, diesmal auf meinem eigenen Boden. Natürlich habe ich sie mir genau besehen, überall gerochen und vieler der aufkommenden Erinnerungen gedacht. Kaum noch wildes Leder zu sehen, überall glatt und speckig, fleckig, abgeschabt und abgeranzt, sogar eine offene Naht ist zu sehen. Ihr Geruch ist leicht muffig-erdig, recht herb und kräftig ledrig. Zusätzlich kommen Erinnerungen auf an die vollgestopften Seitentaschen in denen die Kirschen, Äpfel und Pflaumen Platz fanden, die wir an den vielen Straßenalleen plückten und die auch ansonsten immer gut gefüllt waren mit unseren Kinderschätzen, mit Essen und anderem mehr. Etwas verschämt denke ich auch daran, wie schnell es gehen mußte, wenn man beim spielen „plötzlich“ von einem Bedürfnis überrascht wurde und dabei die Hose in der Eile mehr als einmal etliche Tropfen abbekommen hatte. Spätestens jetzt rieche ich diesen strengen, animalisch-trockenen Geruch auch bei meiner Hose.

Die Neuentdeckung meiner Lederhose ging zeitlich, aber zufällig mit dem Kauf eines neuen Parfüms, Bel Ami EdT von Hermès, einher. Das Parfüm wird geprägt von seiner Ledernote! Diese markante Ledernote macht Bel Ami aus, sowohl die Facetten die man geradeheraus riecht, als auch jene die man sucht und hofft zu finden. Bel Ami ist für mich ein Erinnerungsduft und ein Teil davon erinnert mich an meine glückliche Kindheit, an unser Freiheit im Alltag und an meine Lederhose in der ich all die Abenteuer erleben durfte.

Würzig-herb geht es bei Bel Ami los in Gestalt einer frischen, krautigen Fruchtigkeit, die schon einen leichten Drift ins ledrige für mich hat. Zügig erreicht Bel Ami eine beachtliche Tiefe in der die fruchtige Frische schnell verschwindet und aus der heraus etwas angeschmutztes Leder immer mehr Raum gewinnt. Das Leder ist nicht dreckig, eher knarzig, rauchig, aschig und mit etwas Erde daran. Die Ledernoten sind zeitlich immer präsent, aber dominieren Bel Ami nicht. Holzig-moosiges Eichenmoos, lockend-würzige Blumigkeit und eine zurückhaltende sehr aromatisch-vanillige Süße flankieren die Ledernote sehr elegant und geben dem Duft eine gewisse schroffe Harmonie. Die Haltbarkeit des Duftes reicht über den gesamten Tag, der Geruch ist nicht aufdringlich, aber die Bemerkbarkeit könnte besser sein. Bel Ami ist kein klassischer Lederduft, eher ein ledriger Klassiker für den eleganten Herrn und eine markante Alternative zu den heute überhand nehmenden Süßlingen und den älteren, bewährten Frisördüften.

Erinnerungen evoziert Bel Ami für mich vor allem durch die riechbaren Lederfacetten des Parfüms, ohne damit auch nur andeuten zu wollen, daß Bel Ami wie meine alte Lederhose riecht. Dennoch komme ich dann beim Zurückblicken ins Schwärmen, schaue mir die alten Fotos an, sprühe das Parfüm auf und bin an solchen Tagen etwas glücklicher als an anderen und riechen tue ich auch gut. Den kurzzeitigen Vorsatz meine alte Lederhose nun meinen Enkeln anzubieten, habe ich schnell aufgegeben! Sie sind zwar genau im richtigen Alter, aber heute ist eine andere Zeit mit anderen Moden, anderen Aktivitäten, viel weniger draußen und seien wir ehrlich, etwas eklig wäre es denn auch schon.

Herzlichen Dank an Euch für die erwiesene Aufmerksamkeit!
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