Collection Héritage - L'Heure Attendue 2015

Version von 2015
MonsieurTest
04.06.2021 - 11:26 Uhr
46
Top Rezension
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Preis
8
Flakon
7
Sillage
8
Haltbarkeit
9
Duft

Der ersehnte Moment – die gefürchtete Stunde. Stele für Patou

Niemand pflückt, destilliert und komponiert so schöne Blumensträuße wie Patou. Das ist mein Eindruck als – leider spät, zu spät! – auf einige Patou-Parfums gestoßener Guerlainist. Sanfte, buttrig gerahmte, zarte Blüten. Rosen, Jasmin, Osmanthussis weit entfernt von Kopfweh-Anklängen. Wunderbare Blümlein, eingebunden in cremige Basen.
Nichts Stechendes.
Weiches, rundes Wohlgefallen.
Schierer Genuss.
So die Impressionen meiner Vernasungen von SUBLIME, JOY, MILLE etc. sowie dem hier zu rühmenden & beklagenden ‚L’Heure attendue‘.

‚Die erwartete Stunde‘, so lautet der Name dieses bezaubernden Parfums. Etwas pathetischer und mit Schmelz übersetzt: der ersehnte Moment. Das Parfum wurde erstmals komponiert nach Ende des 2.Weltkriges von Henri Alméras, dem Hausparfumeur Jean Patous während dreier Jahrzehnte. 1946 wurde es auf den Markt gebracht. Der ersehnte Augenblick, der hier gefeiert wurde, war die Befreiung Frankreichs: das Ende von Krieg, Besatzung, Nazi-Terror. Und das wurde, wenn die mir einzig bekannte Rekomposition des wundervollen, Blumen-Patch-Ambers durch Thomas Fontaine dem Original nahekommt, in diesem köstlichen Parfum auf denkbar feine, weiche, keineswegs laut triumphierende Weise gefeiert.

Dieser ersehnte Augenblick beginnt mit einem entzückenden, ganz leicht herben Auftakt. Den verbinde ich (falls Aufdröselungen bei Fontaines genialer Abmischungskunst überhaupt sinnvoll und möglich sind) mit Blumen unter einer braunen Aldehyde-Neroli Butter, durchzogen von Anklängen sanft würzigen Patchoulis.
Der ersehnte Moment setzt sich sonnig lächelnd fort, wenn sich im Herz die traumhaft abgetönten, nie grellen Patou-Blumen verströmen; hier ein gedämpft jubilierendes Trio von Rose, Jasmin und Ylang-Ylang.

Und die erwartete Stunde klingt stundenlang aus in einem herrlichen Akkord aus zivil eingehegtem Patchouli nebst Sandelholz und Spuren würzigen Ambers. Als Guerlain-Fan hält man ja große Stücke auf die Guerlinade: jenen weich-würzigen, traumhaft oszillierenden, perlmuttern schillernden Basisakkord mit seinen tollen Nachhall-Sequenzen. L’Heure attendue von Patou bietet ganz ähnliches – und somit womöglich nicht nur im Namen einen Gruß an das alte Mutterschiff französischer Parfumkunst, Guerlain. Dessen Duft zum Ende des ersten Weltkriegs Mitsouko (1919) war, und dessen faszinierender – dem hier zu besprechenden eher wesenverwandter – Duft ‚L‘Heure bleue‘ 1912, vor der Grande Guerre, das Abendlicht Paris und der Welt erblickte.

‚L’Heure attendue‘, zumindest in Thomas Fontaines schöner Fassung von 2015 ist – wie das von mir geschätzte ‚L’Heure bleue‘– ein leiser Duft: trotz seiner Blüten höchstens eine gestopfte Trompete. Gewissermaßen ein Anti-Shalimar.
In der ersten Stunde, bevor alles wunderbar weich, cremig zart und unglaublich rund wird, verspüre ich eine ganz sanft animalische, schmutzige Mittelstimme, die dem feinen Blumen-Concerto einen würzigen, gleichwohl harmonischen Beiklang gibt. Ich vermute, sie beruht auf einer kunstvollen Mischung von Aldehyden mit Amber und Patchoulinoten. Sie ist jedoch meilenweit entfernt von dem kraftvoll animalischen Zibet eines Jicky oder der wuchtigen Rauch-Balsam-Vanille Shalimars.

Dieser Duft fliegt, wie sein Vorgänger, das Original von 1946, bei Parfumo seltsamerweise tief unterm Radar. Es existiert zum Original ‚L‘Heure attendue‘ kein Kommentar und gerade mal ein Statement; zur Rekonstruktion von Thomas Fontaine ist dies der erste Kommentar, nach einigen Statements von kenntnisreichen Parfumo-Mitstreiter/innen.
Das lässt mich vermuten, dass der Duft schon früher nicht gerade weit verbreitet war, und dass leider auch die Erbe-Belebungs-Aktion Patous 2015 keine große Aufmerksamkeit fand. Die unlängst erfolgte, höchst bedauerliche Einstellung der Marke Patou weist gewiss auch auf den heute fehlenden kommerziellen Erfolg dieser Düfte hin. Was für Parfum- und Geschichtsfreunde sehr traurig ist.

Das Nachkriegs Werbeplakat Patous – mit in blau gehaltener Sonnenaufgangs-Ikonografie – feierte 1946 den ersehnten Moment des zivilen, des guten, des verfeinert luxuriösen Lebens nach den Schrecken von Krieg, Besatzung und Verfolgung. Implizit wies es auch auf die üblen vorangegangenen Jahre hin: „Das erste neue Parfum Jean Patous nach 12 Jahren“.

Die gefürchtete Stunde der erst 2014 begründeten, wundervollen Collection Héritage Patous kam 2019: das Ende der ruhmreichen Parfumgeschichte des Modehauses, das der 1936 jung verstorbene Jean Patou seit 1919 führte. Die gefürchtete Stunde, wenn ein geschichtsreiches, großes Parfum eingestellt wird, betraf hier nicht nur einen einzelnen Duft sondern gleich ein gutes Dutzend großer Düfte, die von Henri Alméras sowie von Jean Kerléo, der von 1967-1998 der Parfumdirektor des Maison Patou war, geschöpft wurden.

Kerléo war 1988 Mitgründer, dann langjähriger Direktor des Parfum-Archives Osmothèque in Versailles. Deren Hauptaufgabe gemäß Kerléo die Bewahrung der Duftschöpfungen, der Bücher, Formeln und Düfte für die Nachwelt ist. Auch die Neu- oder Nachschöpfung verloren gegangener Düfte. Zweifellos werden er und seine Nachfolger die fantastischen Duftformeln und Parfums des Hauses Patous archiviert, bewahrt und erforscht haben. So dass eine Wiederkehr dieser jüngst untergegangen Düfte in irgendeiner (nostalgischen, sentimentalen oder luxuriösen) Zukunft möglich sein sollte. Das wäre dann für Parfum-Freunde wieder eine ersehnte Stunde.

Das Schicksal der Marke Patou ist vermutlich nicht ganz untypisch für den Handel oder letztlich Untergang großer Duftmarken. Das Luxus-Lizenz Konglomerat ‚Designer Parfums‘ (im Besitz der indischen Milliardärsfamilie Mehta) übernahm die Marke 2011 von Procter and Gamble, welche sie 2001 den Erben Jean Patous abgekauft hatten. Bei Designer Parfumes rangierte das edle Patou nun in kurioser Parfum-Markengesellschaft zwischen einer verehrten Adresse wie Scherrer, solid-sympathischen Designer-Duftmarken wie Cerrutti 1881 oder Aigner sowie Promidüften von Jennifer Lopez, Naomi Campbell, Ariana Grande und schließlich Testosteron-Marken wie Porsche Design und Playboy.

Man hätte meinen mögen, die finale Übernahme der Markenrechte Patous durch LVMH (zu dem feinste Parfumhäuser wie Guerlain, Dior, Bulgari, Givenchy und einige weitere gehören) bedeute Gutes, mithin eine Sicherung des Patou-Dufterbes. Es kam anders. Überraschenderweise belebte der Luxuskonzern die lange schon eingestellte Textilmarke Patou wieder, übertrug jedoch die Markenrechte am Namen des berühmtesten Patou Dufts, JOY, an Dior. Wo nun ein ganz anders duftendes JOY unters Volk geworfen (äh: teuer verkauft) wird. Und ließ die Patou-Parfumproduktion einstellen. Gewiss gab es dafür handfeste ökonomische Gründe, niedrige Verkaufszahlen der Patou Düfte und recht aufwendige Herstellungskosten etc. Gleichwohl ist dies bitter und traurig, im Hinblick auf die Verehrer der feinen Patou Düfte wie auf das sonst so stolz gepriesene französische Parfumkulturerbe.

Mit 0,01% von B. Arnaults Vermögen (derzeit reichster Erdbewohner, LVMH Hauptaktionär) ließen sich die Patou Düfte lange weiter herstellen. Und mit ein wenig Fantasie wohl auch gewinnbringend vermarkten, so möchte man nach Paris rufen !
Falls dies irgendwie irgendwann erhört wird, und Patou und ‚L‘Heure attendue‘ dereinst auferstehen werden, dann wird das, vermuten wir, eine gute eine ersehnte Stunde für die Parfumgeschichte sein...

Mein Dank gilt Barbara R3mt9 für ihre großzügigen Abfüllungen von diesem und einigen anderen Patou Düften!
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