New Study | postcard 2017

FioreMarina
18.05.2022 - 09:03 Uhr
23
Top Rezension
8
Flakon
7
Sillage
7
Haltbarkeit
8.5
Duft

Luciano oder: Warum Postkarten nicht sterben dürfen

Es ist eine Schande, sagt Luciano. Eine Schande, dass es Cartoline, die Postkarten bald nicht mehr geben wird.
Er klemmt sich die Zigarette in den Mundwinkel, weil er die Hände zum Reden braucht und macht eine ausladende Geste hin zu dem Ständer mit Postkarten, die er verkauft. Sie sehen ausgebleicht aus, was mich nicht wundert, denn die Sonne in Porto Sabina ist heiß. Und in der Sonne stehen sie wohl schon seit längerem.
Für Luciano ist das kein Unglück, jedenfalls kein finanzielles, denn abgesehen von den Karten verkauft er noch so allerhand mehr an die Leute im Dorf und natürlich an die Römer, die Mailänder und Florentiner, die jeden Sommer kommen und dem Ort zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen haben: Zeitungen, Gummitiere und Badelatschen, und seine Frau vermietet die Zimmer oben im Haus, mit Blick auf den kleinen Hafen und die schaukelnden Fischerboote.
Man wird davon natürlich nicht reich, sagt Luciano. Aber wen stört das, solange die Sonne scheint und der Cafè nicht ausgeht und die Azzuri gewinnen?
Luciano trifft man übrigens nur ausnahmsweise in seinem Geschäft. Meistens bezieht er Stellung am immer selben Tisch der Bar nebenan, wo er Cafè in absurden Mengen konsumiert, ohne dass es jemals seinen Blutdruck hebt, und den Laden ebenso im Auge behält wie das Treiben im Hafen. Wer vorbeikommt, bleibt stehen oder setzt sich dazu: so wie ich an diesem späten Nachmittag, an dem Luciano mit weit ausholender Geste sein Bedauern über das Ende der Postkarten kundtut.
Die Leute schreiben keine Postkarten mehr, klagt er. Sie schreiben diese Dings, äh… What’s App – Nachrichten. Aber: Ma dai, bittesehr, das kann doch jeder, so eine Nachricht schreiben und dann ein schlechtes Foto dazu schicken.
Er fixiert tadelnd das Glas mit Limoncello auf Eis, das ihm Piero, der Barista und sein Freund seit mehr als 50 Jahren, vorhin gebracht hat: Aber so eine Postkarte, ah, das ist etwas ganz anderes! Du wählst sie aus, du denkst dir: Dieses Foto da, das mit dem Meer und dem Sonnenaufgang, das ist etwas für die Schwester, die ist doch so romantisch. Und dem Nonno schicke ich die Karte mit der Flasche Wein auf dem Tisch vor dem Olivenbaum. Verstehst du, verstehst du mich, was ich meine? Du schreibst, du wählst deine Worte sorgfältig, denn es ist nicht viel Platz und das Wesentliche soll ja auf der Karte stehen. Dann musst du zum Tabaccaio, die Briefmarken kaufen, dabei wirst du ein Schwätzchen halten und dich nach der Gesundheit seiner Frau erkundigen. Und dann geht die Karte auf die Reise, die weite Reise zu deinen Lieben nach Hause. Das braucht Zeit, un po ‘ di pazienza, es braucht Hingabe, sì, ohne jeden Zweifel.
Er nimmt einen Schluck Limoncello und sagt nach einer emphatischen Pause fast zärtlich: So eine Cartolina, so eine Postkarte, das ist Poesie. Er schaut mir in die Augen, ergriffen von der Wucht seiner Worte, und fügt hinzu: È amore, es ist Liebe, Cara, die du auf Reisen schickst, auf den langen Weg von Dir zu mir. Und dann, während er mit den Händen einen imaginären Schlussstrich durch die Luft zieht, sagt er, was alle Italienerinnen und Italiener sagen, wenn sie ihren Worten Letztgültigkeit verleihen wollen: Basta.
Ich bin nie nah genug an Luciano gekommen, um sein Parfum zu riechen und deswegen weiß ich nicht, ob er New Study / Postcard benutzt. Aber ganz sicher würde es ihm gefallen: Miller & Bertaux scheinen seine Auffassung zu teilen, dass die Postkarten nicht sterben dürfen - wohl deswegen haben sie ihnen ein Denkmal gesetzt. Und Lucianos Vorstellungen davon, was eine Postkarte bedeuten kann, auf wundersam poetische Weise in einem Duft interpretiert.
Das Herz des kleinen Labels schlägt im Pariser Marais, was an sich schon malerisch genug für ein Postkartenmotiv wäre. Ihre olfaktorische Postkarte verschicken Miller & Bertaux allerdings aus dem Süden, was vorrangig an dem Zitrusakkord liegt, mit dem der Duft startet: sehr frisch, sehr spritzig und ein wenig herb, wohl weil die beigesteuerte Orange nicht ganz reif ist und, wie ich glaube, der Abrieb der Schalen mit verwendet wurde. Der Duft wirkt an dieser Stelle transparent auf mich, fast ozonisch, wie ein wohltuendes Schattenfleckchen unter einem Zitronenbaum an einem sehr, sehr heißen Tag. Es muss wohl jemand das Gras an dieser Stelle frisch geschnitten haben, denn schon nach ein paar Minuten wird der Duft grüner, die Frische verändert sich, wird tiefer, ernster, ohne an Leichtigkeit einzubüßen. Manche riechen hier frische Minze: ich nicht. Aber es ist, als könnte ich von fern einen Rasenmäher summen hören.
In dieses sommerliche Bild tupft ein Künstler Weißblüher mit leichter Hand: Ich glaube, Jasmin und Tiaré zu erkennen, vielleicht aber nur, weil das die üblichen Verdächtigen wären. Sie zerstören den Eindruck der Frische nicht, aber sie geben dem Duft ein kleines Bißchen mehr Körper zu seiner flirrenden Transparenz, auch eine Spur zurückhaltende Süße. Fast zeitgleich wird es fruchtig, erst leise, dann tritt die Fruchtnote in den Vordergrund: frische Feigen, deren weiche Haut beim Aufbrechen einen hellgrünen, zartbitteren Duft verströmt, bevor die Früchte ihre Süße freigeben.
Bis dahin ist das Postkartenmotiv in seiner Schlichtheit und zurückgehaltenen Schönheit auf mühelose Weise elegant wie ein gut formulierter Urlaubsgruß, der es schafft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und gleichzeitig auf zärtliche Art persönlich zu sein. Aber würdet ihr mir zustimmen, dass eine Postkarte, um wirklich eine zu sein, noch mehr braucht für das gewisse Etwas, sagen wir: eine Brise Kitsch? Wie ein Strand, der, egal wie schön er ist, erst dann zu Urlaub wird, wenn einer darüber läuft und mit sonorer Stimme „Coco bello“ anbietet?
Bitte sehr: Kein Problem. Denn im Ausklang des Duftes stielt sich eine winzige augenzwinkernde Kokosnote ein, so als würde jemand sagen: Ma dai – ein Sommerparfum ohne Kokos? Was bitte soll das sein? Ich glaube ja, Miller & Bertaux haben Sinn für Humor. Und schenken dem Duft in seinem Abgang eine lächelnde Kusshand mit auf die Reise.
New Study / Postcard hat alles, was eine gute Postkarte braucht: es wirkt ungezwungen und ungekünstelt, fast impressionistisch hält es die Leichtigkeit eines Sommerurlaubes fest. Und da Postkarten kein Geschlecht haben, hat auch das Parfum keines: Es steht Männern so gut wie Frauen und allen Menschen, vorausgesetzt, dass sie den Sommer lieben.
Es ist ein unaufdringliches, aber ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, dass die Postkarten nicht sterben dürfen. Und wenn das nicht Poesie ist, dann weiß ich’s auch nicht. Ecco, und wie Luciano sagen würde: Basta.

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