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vor 2 Jahren - 08.11.2023
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Harry Lehmanns 100% Oldschool „Parfüm nach Gewicht“, ein großartiges Geschäftskonzept


Einige von Euch scheinen die Düfte und den kleinen Laden in Berlin zu kennen. Seit kurzem ist der Laden Vergangenheit mit unklarer Zukunft. Mitglied Methabolica nannte ihn oldschool und postete ein Foto vom 5.9.23 im Thread. Deutlich, dass gerade renoviert wird, etwas unorganisiert mit flüchtig beiseitegestellten Flacons, und ohne Bekanntgabe was man vorhat. Im Thread wird auch von einer Mail des Besitzers noch im Dezember 2022 berichtet. Also gab es dort bis vor kurzem noch „Parfum nach Gewicht“ bzw. in ml. Einige der Düfte finden sich ja in euren Sammlungen und so wäre ich durch halb Deutschland gefahren um dort einzukaufen. Doch keine Antwort auf Telefon und Bestellmail. Erst durch Euch erfuhr ich, dass ich bei Harry Lehmann zu spät bin. Um Haaresbreite.

Schade, denn das Konzept „Parfums nach Gewicht“ ist großartig, weil es sowohl die Sache als auch den Kunden ernst nimmt. Dem Kunden wird zugestanden, dass ihm seine Nase und nicht sein werbeverwirrter Kopf sagen darf was ihm gefällt. Und der Sache wird zugestanden für sich selbst zu wirken, ohne zusätzliches Marktingkonzept, Flacondessign und Fotowerbefeldzug. Stellt Euch mal vor, dort gab es NUR die Düfte, weitgehend ohne assoziative Beeinflussung! Einzig der Name der Kreation war ein Hauch von Hinweis auf die Duftrichtung. Was für ein extratolles Geschäftskonzept!

Bei Lehman bediente man offenbar Kunden mit Respekt und betrachtete sie nicht als willenlose Konsumenten indem man  Urteilsfähigkeit zubilligte. Wie gern hätte ich dort noch eingekauft. Sachbezogen durfte man herausfinden, was man mag. Welches Wunder im „Friss-oder-stirb“-Industriezeitalter. Und sobald man dann wusste was man bevorzugt, konnte man es jahrzehntelang nachkaufen. Welcher Kontrast! Heute muss man damit rechnen, dass der endlich gefundene Lieblingsduft nicht nachzukaufen möglich ist was ihn vom Duftkunstwerk zum Marketingexperiment abstuft, und wär er noch so gut. Die garantierte Nachkaufmöglichkeit bei Harry Lehmann Düften empfinde ich als echtes Plus. Man bot dort sogar kundendeffinierte Mischungen an.  

Ach, was für ein Superladen. Auf jeden Fall für Leute, die Düfte mehr benutzen als sammeln und die ihre
Vorlieben kennen. Damit hätte die überfordernde Unzahl täglicher Neuerscheinungen ausgespielt und wäre als neurotische Recourcenverschwendung entlarvt. Heutzutage gilt zur Rechtfertigung von „unverpackt“ das Umweltargument, doch bei Lehmann konnte man schon vor 70 Jahren den eigenen, vielleicht kostbaren, Flacon nachgefüllt bekommen. Das schonte den Geldbeutel und förderte Individualität. Wer keinen Flacon hatte war dadurch motiviert sich einen zu besorgen. Und das woanders, denn Lehmann verkaufte nur in schlichten Abfüllgefäßen. Als Duftfachgeschäft konzentrierte man sich tatsächlich auf Düfte (abgesehen von der verspielten Idee mit den Seidenblumen).
Doch lang ist es her, als jeder nur das verkaufte, wovon er was verstand. Bei Lehmann brauchte es als Kunde ein wenig Sachkenniss und Entscheidungsfähigkeit in Echtzeit. Gemessen an Online-lieferzeiten war die Einkaufszeit im Laden nur Bruchteil und außerdem ein sinnliches Vergnügen ohne nachher Berge von verklebtem Karton entsorgen zu müssen.

Auch wenn ich keinen einzigen Lehmann-Duft kenne: das Konzept war und ist großartig. Es geht weit über Duft hinaus. Es ist regt an und bildet, womöglich sogar interdisziplinär, weil keine Flacons verkauft
werden und man käme so vielleicht auf Glaskunst. Es fördert Mitarbeit beim engagierten Kunden und ist damit megawertvoll. Aktivierend, bildend, umweltgerecht, gleichzeitig 100% Oldschool wie Aktuell im Kommen. Sagt das bitte unbedingt Denen, die den Laden gekauft haben und gerade renovieren, wofür auch immer!

Gerade sagt mein Engel, sie wüssten es und werden nach Kräften das ihrige draus machen. So sei es.

Aktualisiert am 09.11.2023 - 06:42 Uhr
6 Antworten
BeatriceABeatriceA vor 2 Jahren
Im Laden war ich auch nicht, habe aber mehrere Düfte getestet - weil mir die Idee gefallen hat. Leider konnte ich mich mit keinem der getesteten Düfte anfreunden.
TurbobeanTurbobean vor 2 Jahren
Weiß gar nicht, warum Dein Blog so wenig Liebe erfährt, oder was daran befremdlich sein soll.
Das Einzige was aus meiner Sicht gegen "Parfums nach Gewicht" spricht ist, dass es auf dem Markt so wenige interessante Leerflakons gibt.
DoubsDoubs vor 2 Jahren
Ich war auch noch nie in dem Laden, konnte aber einige tolle Düfte von Harry Lehmann kennenlernen. Ich hoffe, es klappt mit der Neueröffnung.
PistazieneisPistazieneis vor 2 Jahren
Man merkt, dass Du nie in dem Laden warst. Einige Deiner Behauptungen stimmen einfach nicht. Für mich ist es daher etwas befremdlich, was in diesem Blog zu lesen ist.
DuftpsycheDuftpsyche vor 2 Jahren
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Sag ich doch dass ich nie im Laden war! Deshalb red ich auch nicht von den alten Regalen, sondern vom Geschäftskonzept! Von der Idee "Parfum nach Gewicht".
Aber ich kann mir vorstellen, dass das so Manchem befremdlich vorkommt. Das war ja bereits zur Entstehungszeit absolut innovativ und eigen. Da hat sich jemand was überlegt, was Kunden entgegenkäm, sich getraut es umzusetzten und damit 70 Jahre Erfolg gehabt. Nachahmenswert. Egal in welcher Branche.
Medusa00Medusa00 vor 2 Jahren
Ja, es ist sehr, sehr schade. Ich kenne mehrere Düfte von Harry und habe derzeit noch "Maiglöckchen" und "Lindenblüte". Die Parfüms wurden in schlichte Sprühflakons ab 5 ml abgefüllt. Meine Tochter war mal dort im Laden und war begeistert. Sie sagte wie diese alten, versteckten kleinen Lädchen und sehr nette Bedienung. Ich habe immer gehofft, daß jemand sein Vermächtnis weiter führt.

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